Polianders Zeitreisen

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Rüberlaufen

30.12.2021 · poliander

Als der Winter kam und das Jahr zu Ende ging, legte Poliander Beifuß in die Schuhe. Denn das Jahr war alt geworden und Poliander spürte es in den Knochen. Beifuß war das Kräutlein, das die Füße weckte, das wach hielt und geschmeidig machte. Der Weg war noch nicht zu Ende, und im neuen Jahr sollte er ja gleich wieder in den nächsten übergehen.

Nur nicht müde werden.

(Beifuß-Abbildung: Copyright siehe unten.)

Als das Jahr zu Ende ging, entzündete P. ein paar Kohlen in einer Schale aus Ton. P. blies die Flamme fort und legte ein Beifußstengel mit Blättern und Blütchen auf die Glut. Der aufsteigende Rauch machte das Zimmer sauber, den Atem frei.

P. entzündete ein Büschel aus Beifuß und Salbei und ging übers Feld, und die Räucherung ließ eine Fahne aus Duft hinter P. Der starke Duft treibt das alte Jahr fort, zu den Pfützen, in die Rinnsale des Winterregens, in die Kanäle und die kleinen Flüsse in der großen Stadt. Es war ein Jahr, an dessen Ende P., wir alle die Atmosphäre klären wollen, können, müssen. Es war ein Jahr, an dessen Ende P. wie alle ein bisschen Zauber brauchen kann, nach all den Langsamkeiten, den Lockdowns, den Absagen von Veranstaltungen, dem Kummer über ausbleibende Begegnungen, nach all der Müdigkeit in den Augen von P.s Freundin, die auf einer Rettungsstelle alltäglich ihr Bestes gibt.

Freiheit und Solidarität, Freiheit und Verantwortung: die schwere Last im alten Jahr. Was soll ich tun, was muss ich lassen?

Als das Jahr zu Ende ging, mischte P. einen Nudelteig und mengte Beifuß darunter. Auswellen, Streifen schneiden, die Streifen in sich verdrehen. P. brachte das Wasser zum Kochen, P. warf die Beifußnudeln hinein. Schnell abgießen, schnell die Butterflocken aufsetzen, rasch durchschütteln und alles in die vorgewärmten Teller geben. Löffeln, roten Wein dazu trinken: Beifuß macht fröhlich.

P.s Fröhlichkeit nimmt die guten Stunden des Jahres in die Erinnerung: als die Museen wieder öffneten und P. in der Spätgotik-Ausstellung stand, als die Restaurants wieder öffneten und P. frohe Zeit mit Freundinnen und Freunden verbrachte, als P. im Kino saß, wisst ihr noch, Leserinnen? Als wir “Die Unbeugsamen” sahen. Dann P., eine Zuschauerin im Theater, P. glücklich, als Gramann endlich wieder öffentlich lesen durfte. Jammer vorbei! Die Freude eines vollen Saals, Freude, dass überhaupt wer gekommen war, Freude über ein kontroverses oder zustimmenden Gespräch. Ganz besondere Freude über eine Musik vom Akkordeon.

Und dass die anderen Menschen das Glück sind, nicht das Unglück, dass sie die Rettung sind, nicht die Gefahr.

P. eilte mit ihren Beifußfüßen durch den Wald, P. stieg auf einen Turm.

Jetzt nur nicht müde werden.

P. eilte die Stufen hinan, kroch durch eine Tür, noch eine, auf allen vieren zuletzt eine Leiter hinauf. Plötzlich freier Blick hinaus. Beifuß, Artemisia vulgaris, ist auch eine Medizin für die Geburt, und während P. über die Ebene hinschaut und da vorn das neue Jahr sieht, versteht sie endlich: Hier geht es jetzt um die Geburt des neuen Jahres. Ja, wir werden alle zum neuen Jahr überlaufen, schnell hinüberlaufen. P. winkt, P. ruft: Neues Jahr, komm raus, neues Jahr, komm!

Koordinaten: 2021, 2022.
Vorbotin: Ein ausführlicher persönlich-pflanzlicher Jahresrückblick erscheint im Audio, und zwar im Blog der BEGiNE. Demnächst. Bis dahin gern mal öfter dort vorbeischauen, ggf. etwas scrollen.
Dankeschön für Abbildung einer Beifuß-Pflanze: Sie wurde dem Wikipedia-Eintrag von Artemisia vulgaris entnommen, die Datei zur Verwendung auf www.poliander.de leicht verkleinert. Copyright für die Abbildung wie folgt: Permission is granted to copy, distribute and/or modify this document under the terms of the GNU Free Documentation License, Version 1.2 or any later version published by the Free Software Foundation; with no Invariant Sections, no Front-Cover Texts, and no Back-Cover Texts. A copy of the license is included in the section entitled GNU Free Documentation License.

Begegnung · Erregung
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