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Kranz oder Krone (68) – Frisur ist Würde, Bildung Ländersache, Kultur Privatangelegenheit

13.02.2021 · poliander

Draußen: Schnee und Sonne.
Drinnen: alle Fußböden geputzt.
Stimmung: im Keller.

Haben Sie schon Ihrem unabhängigen Lieblingskino gespendet? Haben Sie von Ihrem unabhängigen Lieblingsblumenladen auf dem Weg von Click nach Collect solidarisch Blumen gekauft? Haben Sie schon auf Ihre Lieblingskolleginnen verlinkt? Haben Sie die Kontakte zu Ihren kleinen, unabhängigen Lieblingsveranstalterinnen gepflegt? Haben Sie im Begineblog Ihrer Lieblingssängerin gelauscht oder einfach mal auf digitalem Weg von einer gehört, die sie noch nicht kannten? Haben Sie eine Pizza in Ihrem Lieblingsecklokal abgeholt? Existiert Ihre Lieblingskneipe noch?

Und du, liebe Schriftstellerinkollegin, liebe Künstlerinkollegin, siehst du dich solidarisch behandelt? Wovon lebst du? Vom Ersparten, oder hattest du Glück, als Stipendien verlost wurden? Hast du einen, der / eine, die dich unterstützt? Konntest du ein Bild verkaufen, hast du für ein, zwei Handvoll Euro aus deinem letzten Buch einen Podcast gemacht? Und falls du Kinder hast, wie sind deine Arbeitsbedingungen jetzt, wo auch die Kleinsten im Homeoffice arbeiten? (P. weiß, dass es „Homeschooling“ heißt.) Wie sind deine Arbeitsbedingungen, Galeristin, solange du deine Galerie, dein Lädchen solidarisch mit der Gesellschaft geschlossen hältst? Und du, Kollegin, die den einen oder anderen kunstfremden Brotjob ausübt, während Ausstellungs- und Veranstaltungsorte dicht sind, wie geht es dir? Liebe Kolleginnen, auch liebe Kollegen, malt, schreibt, komponiert, dichtet, zeichnet, holzschneidet, radiert, singt, flötet ihr?

Guten Morgen, liebe Sorgen.

Von allen Seiten hört P. von Menschen, die mürbe sind, manchmal auch zermürbt. Auch die Mürbsten sind tapfer. Auch die Müden tauschen Kuchenbrot und gute Wünsche mit der Nachbarschaft. Auch die Verstörten tragen ihren Mundnasenschutz, wenn sie in der Bäckerei anstehn. Auch die Erschöpften tun ihre Arbeit. Auch die Verärgerten benehmen sich weiter vorsichtig, um weder Fremde noch Freund!nnen zu gefährden.

Mürbe war P. neulich. Heute ist sie wütend.

P. hat Radio gehört. P. rief: Kranz oder Krone, die Karten auf den Tisch! Das Radio gab die spärlichen Beschlüsse vom 10. Februar bekannt.

Neue Idee: Friseur!nnen dürfen am 1. März wieder öffnen.
P.s Gedanke: Schön, dass Friseur!nnen ein paar müde Euros verdienen können. Nur: Arbeiten sie nicht mit ihren Händen am Kopf einer anderen Person? Wer keine Teleskoparme hat, kommt dabei ziemlich mund-, nasen- und insgesamt körpernah. Auch mit Mundnasenschutz näher als jede Person, von der man sagen wir: eine Museumseintrittskarte kauft. Auf alle Fälle näher, als eine Blumenhändlerin kommt, wenn sie einen Strauß Tulpen über den Ladentisch reicht.

Ostfrauen, erinnert ihr euch? Damals, in der DDR, als alles verboten war, was Spaß machte, und Blumen zu kaufen gab es auch nicht… Für P. sind Blumen essentiell. Auch wenn P. trotz Verboten und ohne Schnittblumen trotzdem viel Spaß hatte. Blumen bedeuten Freude. Aber Würde?

Guten Tag, liebe Logik.

Kein Missverstehen: P. gönnt Friseur!nnen die Arbeit von Herzen.

Ministerpräsident (fiktiv): Frisur ist Würde.
P. (denkt): Bedauernswerter Mann, dessen Würde vom Haarschnitt abhängt.
P. (sagt sich): Muss der da nicht selber lachen?

Beamtenmund (vollkommen fiktiv): Die Würde der bayerischen Frisur ist unantastbar.
P.: Entscheidend ist, was im Kopf, nicht was auf dem Kopf ist.

Frisuren sind gut, auch Kleider machen Leute. Ach, Kleider, die kann man sich schicken lassen.
Bildung hingegen. Wie steht es um die Würde der Kinder und Jugendlichen? Kann man sich Wissen schicken lassen? Aufs Smartphone vielleicht? Wer kommt, wer flüstert hinter der Tür den Lösungsweg für die Gleichung? Wie steht es um die Chancen der Kinder, deren Mütter in Krankenhäusern und Pflegediensten Menschen helfen anstatt ihren Kindern beim Hausaufsatz? Und so weiter. Kann man soziale Kontakte einüben, wenn man allein zu Hause sitzt? Und wie steht es mit der Chancengleichheit derjenigen Kinder, die zu Hause keine haben, die helfen kann?

Bildung und Kultur: Hat Ihnen im Museum je eine Fremde in die Haare gegriffen? Und seit wann ist eine Lyriklesung eine körpernahe Dienstleistung?

Kein Missverstehen: P. fordert weder blindes Vertrauen noch sehenden Auges jede Menge Risiko.

Aber, liebe Kolleginnen, Freund!nnen und fiktive Politiker!nnen: Wenn wir schon unbedingt was Riskantes (oder auch nur „Riskantes“) machen wollen, warum dann nicht im Bereich Bildung und Kultur statt an der Frisur?

Beamtenmund: Ja, alle möchten jetzt ihr altes Leben zurück.
Poliander: Quatsch. Mein Leben ist jeden Tag neu.

Guten Abend, Heiterkeit.

Koordinaten: 2.328.447 (Zahl laut Täglichem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 13. Februar 2021). Genesene: ca.2.112.000 (vom RKI geschätzter Wert laut Lagebericht desselben Tages).

Kranz oder Krone
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