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Kranz oder Krone (61) – endlich im Kino – Wiedersehen im Dunkeln

14.07.2020 · poliander

Wenn es dunkel wird, kommen Träume.
Wenn es im Kino dunkel wird, werden Träume wahr.

In all den Wochen und Monaten ohne Kino träumte P. davon, endlich wieder ins Kino zu gehen. Gutscheine für den ersten Besuch schliefen im Regalfach. Ja, wir schauten sie ab und zu an. Kino ist unersetzlich.

Das erste, was P. beim Betreten des Lieblingskinos sieht, ist Desinfektionsmittel. Meinetwegen. Brav ziehen wir den Schutz über Mund und Nase (ja, über die Nase auch, was dachten Sie denn?) Dann sehen wir sofort das freundliche Gesicht an der Kasse, hier: Reservierungsnummer 842. Klingt magisch, die Zahl. Dann haben wir die Karten in der Hand. Ah. Blick zur Kaffeemaschine: Kaffee? Nicht jetzt. Nach so langer Abstinenz ist P. sowieso aufgeregt.

Aber im Kino-Café herumgehen, das müssen wir schon, denn dort hängen Fotos von geschlossenen Kinos, also von dem, was jetzt monatelang herrschte. Entschuldigen Sie bitte, natürlich, Abstand, und P.s Gefährte entdeckt auf den Bildern sofort ein Kino, das wir kennen: das Astra in Essen, in der anderen tollen Kinostadt, einer Stadt, in der wir auch ein Lieblingskino haben, in das wir immer so gern mit der Tür direkt ins Kino fielen.

Jetzt ist es ziemlich ruhig im Bundesplatz-Kino, ruhiger als normalerweise. Aber Kinogäst!nnen sind da, fast so viele, wie grad reinpassen, wie grad reindürfen, mit diesem riesigen Abstand von zwei Sesseln zwischen jedem besetzten Platz und leeren Reihen zwischen besetzten Reihen. Herr Latta weist uns einen Platz an, wir dürften, sagt er, auch einen anderen nehmen, im Rahmen des Möglichen, zum Beispiel den dort oder da hinten, schaun Sie mal. Wir nehmen den hier. Sobald wir im Sessel versinken, braucht’s keinen Mund-Nasen-Schutz mehr. Und es gibt freundliche Worte von vorn, dort neben der Leinwand. Eine Besonderheit unseres Lieblingskinos sind die freundlichen Worte vorm Film. Vor dem sehr gut ausgewählten Film, möchte P. sagen. Danke, Herr Latta.

Es ist schön, so im Kino begrüßt zu werden. Niemand hüstelt, niemand schnieft, auch nicht vor Rührung. Obwohl wir gerührt sind.

An ihren ersten Kinofilm erinnert P. sich nicht mehr, nur daran, dass das Kino “Lichtspieltheater” hieß, so wie das Dorf “Kurort” hieß. Es existiert noch, das Lichtspieltheater, aber heute heißt es “Kino”. Es hat blaue Sessel, hat P. im Internet gefunden, aber den “Augenzeugen” gibt es lang nicht mehr, und vom Programm schweigen wir jetzt mal ganz. Damals war am schönsten der Film um halb 7, denn beim Rauskommen war es dunkel, und P. konnte länger in der dunklen Welt des Lichtspiels bleiben. Der Film um halb 7, ein echter Lieblingsfilm.

An den ersten Film nach der Corona-Kinoschließung will P. sich unbedingt später noch erinnern. Als die Dunkelheit alle einhüllte, begann er, es war “Paris Calligrammes” von Ulrike Ottinger.

Der erste Film, den P. im Westen sah, war ebenfalls von Ulrike Ottinger: “Jeanne d’Arc of Mongolia” . Das Kino war eine Schachtel mit schwarzen Wänden, es gab eine Pause, weil der Film so lang war, und als P. und der Gefährte weit nach Mitternacht aus dem Kino taumelten, war der Tauentzien voller Licht und voller Menschen. Das Kino gibt es nicht mehr.

Ottinger also, und “Paris Calligrammes”, nicht ganz so lang, aber lang genug. Es ist einfach sagenhaft schön, man bleibt sitzen bis zum letzten Moment, bis der letzte Name über die Leinwand gegangen ist und sie ganz schwarz wird, der Vorhang rauscht. (Stimmt das überhaupt? Rauschte er oder war es gefühltes Rauschen?) Draußen dann Helle, Sonntagmittag, der Wind geht, und es dauert ein bisschen, bis der Kaffee da ist. Da ist dann wieder Corona dabei: Holen Sie den Kaffee nicht selbst, warten Sie am Tisch!

Und wie Ottingers Film nun genau war? Na hören Sie mal, das ist ein Post übers Kino. Gehen Sie hin. Ins Kino.

Koordinaten 1: Bundesplatz Kino Berlin, 52° 28′ 44” N, 13° 19′ 4” O, Filmplakat “Paris Calligrammes”: Verleih, “Paris Calligrammes” auf Ottingers Website.
Koordinaten 2: 199.375 bestätigte Fälle (laut Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 14. Juli 2020). Genesene: 185.500 (vom RKI geschätzter Wert laut Lagebericht vom 14. Juli 2020). Nachträglich ergänzt am 21. Oktober 2020.

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