Gestern, da hörte Poliander plötzlich ein Rascheln, ein Schnurpsen, ein Knabbern. Die Quelle des Geräuschs lag nicht ganz nahe, und es dauerte einen Augen-, nein: Ohrenblick, bis P. das Eichhörnchen entdeckte, das einen ganzen Zweig von seiner Rinde befreit, diese abgeschält hatte.
Die konzentrierte Tätigkeit des kleinen Nagetiers verursachte kräftige Geräusche, deutlich lauter als die Reifen des 20 Meter entfernt vorüberfahrenden PKWs. Essen Eichhörnchen Rinde? Ist etwas unter der Rinde, das Eichhörnchen essen? Sie sind Allesfresser, aber oft sehen P. und der Gefährte sie die jungen Triebe von Lärchenzweigen abbeißen und hören sie kauen. Ziemlich laute Kaugeräusche. Alte Rinde? Jetzt, wo es so viele zarte Knospen gibt? Das Eichhörnchen raffte die Rindenstreifen im Maul und sammelte weitere auf, schob sie zurecht, dann wieder ins Maul, das immer voller wurde. Baumaterial? P. könnte stundenlang zusehen, wie ein Eichhörnchen seinen Alltag organisiert. Schließlich sprang es auf einen anderen Baum über, die Rinde sorgsam im Maul haltend, und verschwand.
Rindenbast ist beim Kobelbau besonders beliebt, wussten Sie das? Waldwissen.net berichtet von diesen seltsamen Stammschäden.
Aufklärung zerstört Zauber nicht.
Was für ein Eichhörnchen Arbeit ist, kann für P. Zauber sein, für einen Forstwirt ein Stammschaden.
Das Gehör wird empfindlicher, je länger die Stille auf der Straße anhält.
Dabei ist es gar nicht still auf der Straße! Eben noch, eben noch hörte Poliander einen der Bauhandwerker schräg gegenüber – rechts links oben unten jedenfalls ganz schön weit weg und wohl doch am anderen Ende der Straße – etwas einklopfen.
Tocktocktocktock. Stille.
Dabei ist es gar nicht still im Haus. Eben noch hörte Poliander den Gefährten im Homeoffice in das Diktiergerät sprechen, dessen Spracherkennungsfunktion umstandslos schrecklich aus schädlich macht. Schreckliche Partikel. Viren sind nicht gemeint.
Schrecklich und schädlich liegt bisweilen dicht beieinander, aber ist die Bedeutung gleich? P. würde so ein Programm keinesfalls verwen—
Stille.
Und in der Wohnung unter über neben uns, diskutierten da nicht eben noch zwei?
Durch die Stille zwitschert ein Vogel. Ist das ein Star? P. erkennt Singvögel eher am Gesicht als am Gesang. Beim ersten Öffnen des Fenster heute morgen sah und hörte P. die Amsel in der höchsten Baumspitze, dort unten die Straße runter, laut und klangvoll sang sie. Die Amsel ist ein Dauerbrenner in P.s Notizen, die Amsel ist ein Star. Jetzt ist sie still.
Geräusche verstummen und kehren wieder. Fenster klappen zu, Jalousien gehen rauf und runter. Füße, über mir. Gespräch auf der Treppe. Das Klicken des Feuerzeugs auf einem benachbarten Balkon. P. bildet sich ein, das Ausatmen des Rauchs zu hören, während der Duft des Zigarettenrauchs zum offenen Fenster hereindringt. Geräusch und Geruch verbinden.
Ist P. eigentlich die einzige Musikhörerin im Haus?
Jetzt setzt das Klopfen jenes unsichtbaren Handwerkers wieder ein. Dort um die Ecke muss das sein. Die Welt ist die Welt. Manchmal zieht sie sich in einem einzigen Quartier zusammen. Quartier, ein viereckiges Wort. Die Welt ist rund. Beinah lautlos geht ein Junge in Sportkleidung vorbei, auf den Ohren trägt er Kopfhörer.
Kopfhörerinnen. Dem Wort nachlauschen.
In der Welt ist zu viel Klang, als dass P. sie auf ein einziges Virus reduzieren wollte.
Koordinaten: 79.696 (Zahl laut RKI vom Zeitpunkt 3. April 2020, 0 Uhr, online aktualisiert um 8.10 Uhr)