Das ist diese Neujahrskarte im Flur, die mich immer an Ilse-Maria Dorfstecher erinnert. Drei tierhafte Wesen mit spitzen Ohren sitzen an einem Tisch, zwei schwarz, eines blau. Vielleicht sind es Katzen oder Kater eher oder noch eher Luchse mit etwas zu kurz geratenen Ohrpuscheln. Eines der Wesen wendet sich dem mittleren, blauen Wesen zu, in einer kleinen, doch erkennbar lebhaften Bewegung. Besteck liegt auch da und etwas Rundes, drei runde Teile, die genauso gut Brötchen symbolisieren können wie sehr kleine Teller.
Also Ilse-Maria gab mir diese Karte in die Hand, in einem Winter, in dem die Inselgalerie sich noch in diesem Neubaublock in der Torstraße befand, einem Alt-Neubau könnte man sagen. Ilse-Maria wirkte tatkräftig und gebrechlich zugleich, sie hatte diesen direkten Blick, diese zupackende Art. Sie behandelte mich, als kennten wir uns lange, so dass es ganz natürlich schien, dass ich jetzt dies oder das in der Inselgalerie tun würde.
Ich denke, es ist wichtig, dass man die Frauen präsentiert und sagt: Die können das alles, und die können genausoviel wie die Männer, mit diesem Satz aus dem Jahr 2007 ist sie noch einmal zu hören, in einem Beitrag in den feministischen „Zeitpunkten“ des Kulturradios. Bloß sie drängen sich nie nach vorne, und das ist auch eine spezifisch weibliche Untugend, dass man sich nicht so gerne, wie ich auch, damit brüstet, was man alles kann.
Der Radiobeitrag ist ein Nachruf. Er erzählt von der Inselgalerie und von Ilse-Maria Dorfstecher, einer Kulturwissenschaftlerin, die in den 90er Jahren diese Galerie gründete. In dem Jahr, als sie mir die Karte gab, hatte ich erstmals Gelegenheit, in der Inselgalerie zu lesen, während einer Ausstellung der Meißner Künstlerin Else Gold. Ich fühlte mich ein bisschen grob angefasst. Das verging, denn wie gut alles klappte und dass es bei der Ausstellungseröffnung Musik gab und bei der Lesung Wein, alles da, und wie fabelhaft gut die gar nicht so schönen Räume der Galerie mit den Arbeiten der Künstlerinnen wirkten und mit all den Menschen. Und Ilse-Maria, die da war und immer mit einer im Gespräch, einfach immer da. Ich freute mich, diese Inselgalerie kennenzulernen, eine Galerie, die Kunst von Frauen zeigt, in der aber durchaus auch Männer vorkommen. Schon 1993 rief Ilse-Maria Dorfstecher für ihre Kunstarbeit die Fraueninitiative Xanthippe ins Leben, die bis heute hinter der Inselgalerie steht. Die Notarin, erfahre ich aus dem Radio, habe gemurmelt, was für ein hässlicher Name das sei, und sie, Ilse-Maria, habe ihr geantwortet: Xanthippe war für uns die erste realistische Frau des Altertums. Es klingt, als stünde sie neben dem Schreibtisch, nicht wie ein Interviewschnipsel, der jetzt schon Geschichte ist, stopp: der Geschichte! ist.
Jedesmal wenn ich Ilse-Maria begegnete, erschien sie ein bisschen fragiler. Das Gehen fiel ihr schwer. Wir kannten uns nicht nah, Ilse-Maria und ich, kaum dass ich etwas von ihr wusste. Aber ihre Eigenheit war es offenbar, eigen, so sehr sie selbst zu sein, ich spürte ihre Kraft, und ja, auch Macht ging von ihr aus. Nicht diese Art Macht, die eine bedrückende Bewegung von oben nach unten impliziert, sondern diese Frauenmacht, von der die Atmosphäre um sie gesättigt war. Dadurch entsteht Nähe. Dann begegnete sie mir eines Tages nicht mehr. Nach und nach war die Galerie (so schien es zumindest mir, die eher gelegentlich dort auf dem Zaun sitzt) in die Hände anderer Frauen übergegangen. Eine Zeitlang ab und an noch eine E-Mail, vereinzelt.
Am 14. März ist Ilse-Maria Dorfstecher, großartige Netzwerkerin und Kunstvermittlerin, im Alter von 88 Jahren gestorben. Und was mich am meisten erstaunte, als ich die Nachricht las, war, Ilse-Marias Zerbrechlichkeit zum Trotz: ihr Alter.
Poliander im Homeoffice hat heute nur diese eine Geschichte. Welche mehr wissen will, werfe einen Blick ins Bücherregal oder zwei ins Internet und schaue nach der Kunst von Frauen.
Koordinaten 1: Inselgalerie Berlin, jetzt am Bersarinplatz 52° 31′ 7“ N, 13° 27′ 11“ O, heute geleitet von Eva Hübner. Im Dienste der Künstlerinnen (Michaela Gericke über Ilse-Maria Dorfstecher in den „Zeitpunkten“, Kulturradio des RBBs).
Koordinaten 2: 36.508 (Zahl laut RKI vom Zeitpunkt 26. März 2020, 0 Uhr, online aktualisiert um 9:35 Uhr. Aus technischen Gründen seien am 25. März keine Fallzahlen aus Hamburg übermittelt worden, die demzufolge offenbar heute erst in die Statistik eingehen.)