Polianders Zeitreisen

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Gedächtnis

21.12.2016 · poliander

Berlin ist unsere Stadt, sagt P., sie gehört uns nicht, aber wir besitzen sie, wir laufen herum, wir reden mit Leuten. Berlin, das sind diese Brandmauern mit der fehlenden Ecke links oder rechts oben. Je dichter die Stadt wird, desto seltener sieht man das. Im Künstlerviertel, sagt P., wurden noch letztes Jahr Fassaden saniert, in die Granatsplitter Löcher geschlagen hatten, viele faustgroß, etliche wie ein Kinderkopf. Die hatte man nicht absichtlich so gelassen, diese Fassaden, sondern es dauerte seine Zeit. Eben. So gelassen hat man den Turm der Gedächtniskirche. P. lernte den Ort kennen, damals, in den achtziger Jahren, nachdem P. nach West-Berlin eingereist war. Die Gedächtniskirche ist ein dreigeteiltes Ding, angeblich nennen die BerlinerInnen den historischen Turm hohler Zahn, P. hat das nie wen sagen hören, na egal. Der Zahn steht mittig, daneben ein Kirchenschiff auf der einen Seite,  ein moderner Turm auf der anderen. Schiff und Turm sind auch historische Gebäude, heute. P. ging oft dahin, um im Weltladen Kaffee und Rum zu kaufen. Vor Weihnachten wurde stets eine übertrieben große Tanne aufgestellt, wird sie immer noch, und am heiligen Abend gingen P. und der Gefährte damals stets zur Gedächtniskirche, besahen die winzigen Kitschpuppen im hölzernen Laden von Käte W., tranken Kakao aus hässlichen Tassen mit Weihnachtsaufschrift und aßen Gözleme, die eine Frau mit anbetungswürdig geschickten Händen formte und auf einer halbkugelförmig gewölbten Platte buk. Er war auch damals nicht sonderlich schön, der enge Markt zwischen zwei stark befahrenen Straßen. Doch wir mochten es, wie leer der Ort war, während die meisten BerlinerInnen zu Hause Bäume schmückten, Essen brieten, die Bescherung vorbereiteten, sich stressten, liebten, stritten, betranken. Nur die Einsamen und die, die ihre Lieben noch einmal vor die Tür geschickt hatten, um in Ruhe das Fest vorbereiten zu können, bevölkerten den Platz in diesen Stunden. Jemand bat um Geld, jemand fragte, wo es zum Bahnhof Zoo ginge, jemand kaufte ein überzuckertes Herz, jemand lachte, und etliche hatten zuviel Drogen konsumiert, als dass sie die Kälte noch hätten fühlen können. P. begriff nie, warum der kleine Weihnachtsmarkt noch die ganze Woche bis Silvester stehen blieb. Das Seltsamste und Schönste an diesem Ort war sowieso der nicht Weihnachtsmarkt, sondern das waren die Menschen. Man konnte ihnen stundenlang zusehen. Die Verkäuferin mit knallrotem Zucker lackierter Äpfel sah aus, als ob sie gar keinen Wert darauf lege, auch nur einen zu verkaufen. Blondierte Damen tranken Sekt mit Männern in zu neuen Lederjacken. Punks tranken Bier und taten, als gehe sie das ganze Weihnachtsgedöns nichts an. Touristen suchten vergeblich nach dem Verruchtem, von dem ihnen erzählt worden war. Männer suchten ein Geschenk für eine, die sie zu wenig kannten, um zu wissen, was ihr gefallen würde.  Niemand suchte die Kleine mit der Laufmasche im Strumpf, die süchtig rauchte, cool tat, in Wahrheit übernächtigt und sehnsüchtig an eine heiße Badewanne und ein sauberes Bett dachte, und beides würde es heute nicht für sie geben. Polizisten schlenderten herum. Zum Tauentzien hin, vor dem Wasserklops stritten Betrunkene. Und am anderen Ende stand Helga Götze, eine kleine freundliche Frau in bunt bestickter Kleidung, die uns alle von ihrem Wahlspruch zu überzeugen suchte: Ficken ist Frieden. P. war fasziniert von der Frau, die mutig tatsächlich kein Tabu zu kennen schien, P. kam nie dahinter, ob und wie P. das nun bewerten sollte. Ficken ist Frieden blieb ein solitärer Satz, der nie erklärt wurde. Dass der Satz damals, vor der pornografischen Inflation des Internets, die jeden Tabubruch trivial machte, tatsächlich unerhört war, erscheint heute fast nicht zu glauben. Damals war Helga Götze die leibhaftige Zeugin einer mythisch überhöhten Wahrheit über ihre eigene und vielleicht die Sexualität aller. Helga Götze ist gestorben. Das Kino im Europacenter, in dem wir “Jeanne d’Arc of Mongolia” von Ulrike Ottinger sahen, 1989, gibt es nicht mehr. P. und der Gefährte sind seit Jahren nicht mehr am Breitscheidplatz gewesen, vorbeigekommen, das ja, extra hingegangen, das nicht.

Niemand nennt Wilhelm I., wenn von der Gedächtniskirche die Rede ist, und Wilhelm II. hat schon so lange abgedankt, dass er im Gedächtnis der BerlinerInnen kaum zu sanieren ist. Selbst Honecker, der eines Tages die Welt nicht mehr verstand, haben wir so gut wie aus dem Gedächtnis gestrichen. TouristInnen suchen verzweifelt die Reste der Mauer. Es stimmt: Es gibt das Vergessen. Aber das Gedächtnis gibt es auch. Berlin ist nie schön gewesen, wir, seine BewohnerInnen, nie liebenswürdig, selten liebenswert. Unsere Stärke ist der stille Trotz, unser Jubeln sind Durchbrüche von unterdrücktem Ärger, unsere Liebeserklärungen geflüsterte Beleidigungen. Wir denken nicht daran, den Breitscheidplatz aus unserem Gedächtnis zu streichen.

Ja, man kann schon sagen, wir sind romantisch.

Koordinaten: 52° 30′ 17” N, 13° 20′ 7” O. Himmel.

Ausgrabung
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