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Religion (2): Lesen

15.12.2016 · poliander

Vierzig Regeln der Liebe

Vierzig Regeln der Liebe

Absichtslos in einen Buchladen deiner Wahl gehn. Den nassen Schirm auf den Boden legen, ein Buch nehmen, zu blättern beginnen, eine Seite aufschlagen.

“Das ist ja mal ein richtig schräger Ansatz”, entgegnete Michelle. “Glauben Sie wirklich, Sie täten sich leichter mit Büchern, über deren Inhalt Sie Bescheid wissen? Garantiert nicht! Schließlich können wir ja nicht nur Romane veröffentlichen, die in Massachusetts spielen, bloß weil wir hier leben!”

Das Buch scheint einen irgendwie kosmopolitischen Ansatz zu haben, während seine Handlung in Northampton, Massachusetts spielt, in einem großen Privathaus, mit einer Heldin, die gerade einen Auftrag als Lektorin angenommen hat, bis eben aber noch eine Hausfrau war, die von ihrem Ehemann zum letzten Valentinstag einen herzförmigen Diamantanhänger geschenkt bekam. Herzförmige Diamantanhänger? Sehen so die Bücher aus, die du liest? Ella jedenfalls, jene Eben-noch-Hausfrau, liest nun den Roman “Süße Blasphemie” eines unbekannten Autoren, um ihn zu begutachten.

Da sind Bücher, wie du sie liest. Denn “Süße Blasphemie” ist der größte Teil des Romans, der aus dem Roman über Ella besteht und aus dem im mittelalterlichen Konya spielenden Roman über den Maulana Rumi und seinen geliebten Gefährten Schams-e Tabrizi. Verfasst hat ihn ein moderner Mystiker, den Elif Shafak erfunden hat und der im Verlauf des Romans “Die vierzig Geheimnisse der Liebe” in eine geheimnisvolle Beziehung mit Ella Rubinstein, der Lektorin, eintritt. Und welche, die sich je für das Mittelalter nur ein wenig interessierte, wäre nicht glücklich, eine Geschichte zu lesen, in der die Träume Dschalal ad-Din ar-Rumis eine entscheidende Rolle spielen?

Schams, der wandernde Derwisch, der sich nicht erst verdächtig machen muss, denn er ist verdächtig für alle in diesem Roman, die sich für rechtschaffenene Gläubige halten, Schams  versteht zu erzählen: Im Basar stieß ich auf  fahrende Barbiere mit Instrumenten für den Aderlass, auf Wahrsager mit Kristallkugeln und auf Zauberer, die Feuer schluckten. Ich sah Pilger auf dem Weg nach Jerusalem und Vagabunden, die ich für bei den letzten Kreuzzügen getürmte Soldaten hielt. Ich hörte Venezianisch, Fränkisch, Sächsisch, Griechisch, Persisch, Türkisch, Kurdisch, Armenisch, Hebräisch und einige andere Sprachen, die ich nicht erkannte. Trotz der scheinbar endlosen Unterschiede strahlte jeder Mensch etwas gleichermaßen Unvollkommenes aus, zeigte sich als das in Ausführung befindliche Werk, das sie alle darstellten, jeder Einzelne ein unvollendetes Meisterstück.

Auch Elif Shafak versteht zu erzählen, wie du schon in ihrem Roman “Der Bastard von Istanbul” gesehen hast.

Am Ende des Romans über die Regeln der Liebe und auch an seinem Beginn liegt Schams tot in einem Brunnen. Und Ella ist am Ende wie am Anfang: allein. Dazwischen wird ein phantastisches Abenteuer aufgeblättert, doch ohne dass “Die vierzig Geheimnisse der Liebe” ein Abenteuerroman wäre. Du findest alles in den Seiten, was einen Roman zu einem unglaublichen Schmöker machen kann, und doch ist er ein Roman, aus dem du klüger kommst als du hineingingst. So jedenfalls ging es Poliander.

“Die vierzig Geheimnisse der Liebe” ist ein Roman über die Religion. Du sollst ihn lesen und deine vorgefassten Meinungen befragen. Später dann liest du auch, auch du liest Rumi. Es gibt viele Wege zur Religion, zu lesen ist einer. Vergnüglich zu lesen, ohne Bildungsplan, steht dem nicht entgegen.

Koordinaten: Elif Shafak.

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