Polianders Zeitreisen

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Beschuhte Erfurterin bei den Barfüßern

25.07.2015 · poliander

Das leere Langhaus, durch die Fester weht der Wind

Durch die Fenster geht der Wind. Foto: Gramann

Drei Arbeiter in orangefarbenen Westen standen vorm verschlossenen Chor der Erfurter Barfüßerkirche, als Poliander im windigen Juni vorbeikam. Ein Relief über der Tür: Der bis auf Beine und Rumpf zerstörte Christus erhebt sich über das umgestürzte Kreuz, Gottvater schaut ihm zu, die Stifter zeigen selbst kopflos noch Andacht. „Entschuldigung, waren Sie schon mal da drin?“ Im Museum? Nein. Und auch nicht in dem riesigen, 1944 durch eine Luftmine eingedrückte Kirchenschiff, dessen Westgiebel noch steht, zerbrechlich, nackt, gehalten von einem Anker aus Stahlbeton. Die gotische Kirche: ein Längsschnitt. Wir suchen einen Hinweis, wie man ins Museum gelangt: „Wegen der Sanierungsarbeiten im Hohen Chor bleibt die Ausstellung in der Barfüßerkirche geschlossen.“ Poliander weiß trotzdem, was da drin ist, vor allem die ungewöhnliche, schöne Cinna von Vargula, ihr Grabstein vielmehr…

Erfurt: In kaum einer deutschen Stadt ist das Mittelalter so präsent, so flächendeckend unzerstört.
Erfurter Bürger im 12., 13. Jahrhundert: begütert, selbstbewusst.
„Rom des Nordens“: 42 Kirchen, ungezählte Türme.
Eine wahre Straße der Besten war die Stadt: Baumeister, Steinmetze, Bildhauer, Maler. Im Predigerkloster, von der Barfüßerkirche nur einen Steinwurf entfernt, jenseits der Gera, lebte, lehrte, schrieb Meister Eckhart, einer der Mystiker Wichtigsten, sicher der merkwürdigste.
27 Kirchen allein in der Altstadt: (Und wir selbst wohnten in einem Haus, unter dem ein romanischer Keller liegt, bis heute, immer noch einer und noch einer, tiefer und alt.) Erst wenige Jahre ist es her, dass in einer Schenke die Alte Synagoge freigelegt wurde, der einzigartige Hochzeitsschatz, den seine Besitzer rasch begruben, ehe ihre Nachbarn, Geschäftspartner, Mitmenschen sie ermordeten, in den Pogromen des Spätmittelalters.
Wer will, sieht in sensibel sanierten Fassaden trotzdem lauter heile Welt, guckt sich auch die Kriegsruine romantisch.

Das Köpfchen. Foto: Gramann

Köpfchen, einsamer Kämpfer. Foto: Gramann

Franz in Assisi, der Heilige, war „ganz normal“, erzählt Ute Unger Poliander. Unger ist keine Schönguckerin, sondern Stimme, vielleicht Seele der Initiative Barfüßerkirche. Franz, ehe er Soldat wurde, war lebenslustig, „Meister Matz“, wie man hier sagt, . Ein Jahr Gefangenschaft wandelte ihn, er hörte Gott sprechen: „Franziskus, geh hin und richte mein Haus wieder auf.“ Kaum die Botschaft vernommen, scharte er Brüder im Geiste um sich, arm, den Armen zugewandt, barfüßig. Gingen überall hin, die Brüder, auch nach Erfurt. „Ich weiß gar nicht, was ein Kloster ist. Baut uns das Haus nur nah am Wasser, damit wir zum Füßewaschen hineinsteigen können“, soll ein Bruder gesagt haben, als die Franziskaner 1228 das Grundstück an der Gera übereignet bekamen. Der erste Bau brannte 1291 nieder, der Chor des zweiten wurde 1316 geweiht. Um 1400 war die größte Franziskanerkirche Europas vollendet, 89 Meter lang, sie fasste 1.000 Gläubige.

Der Status quo: Die Barfüßergemeinde hat das zerstörte Bauwerk, dessen Chor sie seit 1957 als Raum für ihre Gottesdienste nutzte, auf Dauer nicht halten können, übergab es 1977 der Stadt und ist seitdem mit der Predigergemeinde verschmolzen. Seit Anfang der 1980er-Jahre zeigt das Angermuseum im Chor mittelalterliche Bildwerke. Doch meistens zeigt es sie eben nicht, denn der Ort ist nur sporadisch zugänglich, seit 2000 bröckelt es, immer wird gebaut. Der Status quo der baulichen Erhaltung von Chor und Ruine ist der Barfüßerinitiative zu wenig. Sie will die Wiederherstellung der „Kubatur“, des Volumens dieses noch immer prachtvollen Bauwerks. Dafür muss man keinen Kitsch produzieren wie das Fake-Schloss in Berlin.

„In diesem Bauwerk begegnen sich Aufstiege, Abbrüche und Umbrüche der deutschen Geschichte“, sagt Unger… Was noch, lesen Sie heute in der Print-Ausgabe des ND oder online:
Denkräume von größerem Ausmaß. Oder: Frau Unger will sich nicht an die Barfüßerruine gewöhnen
von Ulrike Gramann

Koordinaten: 50° 59′ N, 11° 2′ O, Initiative Barfüßerkirche, Cinna von Vargula.

Reisebrief
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