Polianders Zeitreisen

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Die Mondnacht

15.04.2015 · poliander

Wie er zuzunemhen beginnt nach der Finsternis.

Wie er zuzunehmen beginnt nach dem Tag der finsteren Sonne.

Ohne Neumond keine Sonnenfinsternis, ohne Vollmond kein Ostern. Die Sonnenfinsternis sah P. durch die einfachste denkbare Camera obscura, für die P. nicht mehr benötigt als zwei Blatt Papier und eine Nadel. Winzig erscheint die vom Mondschatten verbliebene Sonnenbarke aufs Papier projiziert und steht Kopf: keine Barke, ein Schirm. Ein Sonnenschirm. Und dann nimmt der Mond zu, Tag für die Tag, die nächste Sonnenfinsternis irgendwann in Jahrzehnten, erst kommt Ostern, und das ist leise, von kalter Sonne überstrahlt, die letzten Krokusse halten aus. P., vergrippt, las im Buch der Bücher,im Buch der Bücher, was den Mond angeht, den Teufel, Moskau, Wahrheit und Lüge, Schriftstellerei und Bürokratie, Pontius Pilatus und Jeschua Ha-Nozri und Manuskripte: “Der Meister und Margarita”, das wichtigste Buch von Michail Bulgakow, das schönste Buch der Sowjetliteratur,wie P. sagt: der ganzen russischen Literatur.

Lesen ist immer erinnern. Zum Beispiel, dass die DeDeEr auch ein Fenster nach dem Osten hatte, und auch das ging nur selten auf. Luft rein ließ, zum Beispiel, Volk und Welt, für den Thomas Reschke übersetzte. Angeblich soll ja jede Zeit ihre Übersetzungen haben und deshalb ab und an eine neue gut sein, mag ja sein, aber das authentische Meister-und-Margarita-Gefühl für in einer Sprache, die nicht Russisch ist, gibt es bei Thomas Reschke. Auch eines, bei dem die Heldinnen und Helden aussehen wie aus jenem Film, für den die zugehörige idiomatische Wendung hieß: “Das jibbs in keen Russenfilm!” Im Osten, “im früheren Osten”, wie P. seit einiger Zeit immer wieder sagen hört. P. aber kann bestätigen, dass alles, was Bulgakow schrieb, geschehen ist, war P. doch selbst in Moskau in der Sadowaja Nr. 302 B und hat den Aufgang zur Wohnung Nr. 50 gesehen, ein Flur voller sehnsüchtiger Graffiti: “Voland, kehr wieder!” Der Ort existiert und ist Zeuge. Auch die früheren Himmelsrichtungen bestehen bis heute.

Erinnerst du dich an den rätselhaft skurrilen Beginn, die Begegnung an den Patriarchenteichen, wo Berlioz (der Schriftsteller, nicht der Komponist, sagt Bulgakow) und Besdomny (der Unbehauste) jenen groß gewachsenen Unbegreiflichen treffen, den sie für verrückt, mindestens aber: einen Ausländer! halten, und er sagt Berlioz’ Tod voraus, auf Verlangen (Voraussage auf Verlangen, meine ich)? Dann hebt die Erzählung aus dem Roman des Meisters an:

Angetan mit einem blutrot gefütterten weißen Umhang, mit schlurfendem Kavalleristengang erschien eines frühen Morgens, am Vierzehnten des Frühlingsmonats Nissan, im überdachten Säulengang zwischen den beiden Flügeln des Palastes Herodes’ des Großen der Prokurator von Judäa, Pontius Pilatus.

Und es dauert nur ein paar Seiten, da beginnt Pilatus zu wünschen, Jeschua, der vermeintliche Verbrecher, werde sein Begleiter im Gespräch – in alle Ewigkeit. Denn die Migräne, die fürchterliche Hemikranie… und die Schwäche des Menschen… Doch zur gleichen Zeit, nämlich 2.000 Jahre später, wird Margarita die Königin des Balls beim Satan, in der Vollmondnacht. P. möchte hier gern alles erzählen, doch das lasse ich nicht zu.

“Sagt mir, warum Margarita Euch Meister nennt?” fragte Voland.
Der Meister lächelte.
“Eine verzeihliche Schwäche. sie hat eine zu hohe Meinung von dem Roman, den ich geschrieben habe.”
“Wovon handelt der Roman?”
“Von Pontius Pilatus.”
Wieder schwankten und hüpften die Flammenzungen, und das Geschirr auf dem Tisch klirrte, denn Voland stieß ein donnerndes Gelächter aus, das jedoch niemanden erschreckte noch verwunderte. Behemoth applaudierte sogar.
“Von wem, von wem?” sagte Voland und hörte auf zu lachen.. “Jetzt? Das ist gut! Konntet Ihr kein anderes Thema finden? Laßt sehen.” Voland streckte die geöffnete Hand aus.
“Das ist leider unmöglich”, antwortete der Meister, “ich habe das Manuskript im Ofen verbrannt.”
“Verzeiht, das glaube ich nicht”, entgegnete Voland, “das kann nicht sein, denn Manuskripte brennen nicht.” Er wandte sich Behemoth zu und sagte: “Komm, Behemoth, gib mal den Roman her.”
Sofort sprang der Kater von seinem Sitz, und alle sahen, daß er auf einem dicken Stapel Manuskripte gehockt hatte. Das oberste Exemplar überreichte er mit einer Verbeugung Voland. Margarita zuckte zusammen und schrie, abermals zu Tränen erregt: “Da ist es ja, das Manuskript! Da ist es!”

Und so weiter, denn damit ist Bulgakows Roman wie der des Meisters von Jeschua und Pilatus noch lange nicht vorbei. P. ist vollkommen überzeugt, dass man ihn lesen soll und muss, gerade, wenn der Frühling kommt und Wintermüdigkeit und -melancholie überhand nehmen wolln.

Nach Ostern der abnehmende Mond überm Haus dort drüben, blattleere Zweige verdecken nichts, die Vögel schrein aufgeregt, als wäre es ihr erster Frühling. Und vielleicht ist er das.

Koordinaten: Wann Ostern ist, Bulgakow in einem uralten Spiegel-Artikel.

Erregung
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