Polianders Zeitreisen

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Seite 240

15.11.2012 · poliander

Roter Mohn, blühendes Unkraut im Wortweizten

Rot blüht Mohn im Feld der Wörter

“Eine Kindheit hatten wir alle, und gut war sie selten”, pflegte der Literaturprofessor zu sagen, er war ein, erinnert sich Polianders Freundin, Gegner der psychoanalytischen Literaturbetrachtung. Polianders Freundin musste die psychoanalytische Literaturbetrachtung nicht einmal ignorieren, sie hatte eh Wichtigeres zu tun, sie studierte die ältere Abteilung, die Hölle, die verkehrte Welt, zyklisches und eschatologisches Zeitverständnis. Und so weiter und so weiter. Alles war außen, nur die Hölle, die war innen oder hinten, auf der Rückseite der Welt. Poliander las anderes Zeug, nicht nur ETAH, sondern sogar Realisten, den Grünen Heinrich. Also die waren  sich nicht so einig, P. und P.s Freundin, sie liest ja auch heute nicht dauernd Biographien, ihr kommt es weniger auf historische Richtigkeit an, sondern auf eine ordentlich gute Geschichte.

Manchmal stellt P. was ins Regal, was P.s Freundin dann rausnimmt. “Die Erfindung des Lebens”, was für ein dummer Titel, dachte P.s Freundin, was ein Glück vergisst sie stets sofort, wie ein Buch heißt. Nahm es, fing an zu lesen, fand’s gut erzählt, konventionell, ja, aber wen kümmert das, wenn die Geschichte nur gut ist und der Stil so fein, als wär’s Keller, wäre, ja, nicht ist, es ist ja nie das gleiche, also P. und P.s Freundin mochten das sofort, auf S.240 sind sie, selbst wenn es dann abfällt, wirklich schlimm kann es nicht mehr kommen mit Geschichte und Stil.

“Erfindung des Lebens”, schön ist das nicht, aber wir wissen ja, wie das mit Titeln so ist, also es geht, es geht darum, wie die Sprache von innen nach außen kommt, aus dem Kopf durch den Kehlkopf an die Luft, wie ein sprachloses, ein nur nach innen sprechendes Kind zum Sprechen kommt. Es geht, darum, wie ein Vater das Kind zur Sprache bringt, nicht, wie in der wirklichen Welt (“oft”, sagt P., “ziemlich oft”, sagt P.s Freundin, was P. aber auch immer so moderat sein muss!), zum Verstummen. Schließlich sagt der Junge, Johannes, sagt: Gebt mal her! Er meint den Ball. Und es funktioniert wunderbar, die anderen Kinder geben ihm den Ball, er gibt ihn zurück, viel ist das nicht, aber es ist ein richtiges Verb darin, immerhin. Der Akt des Sprechens ändert die Welt. Alles ist außen, muss ins Freie, sagt auch P., auch die Sprache muss an die Luft kommen, sie muss, sagt P., endlich befreit werden. Das hier, sagt P., ist ein Trostbuch für alle, die eine Kindheit hatten. Und eine böse, das heißt: eine schwache Stimme sagt abfällig: “Das ist doch Erbauung!” Na und, sagt da P.: Darin steckt bauen, und Polianders Freundin, die schnell mit den Brüdern Grimm bei der Hand ist, liest gleich laut vor: ERBAUUNG: (…) wenn man eine diesem ausdruck angemessene bedeutung sucht, so ist sie wol nicht anders anzugeben, als dasz darunter die moralische folge aus der andacht auf das subject verstanden werde (…) Das Subjekt ist das Kind, das Lebewesen. (Wo das Lebewesen Subjekt ist, ist nicht die Hölle.)

Also wissen Sie was? Lesen Sie doch selbst.

Koordinaten: Hanns-Josef Ortheil, Die Erfindung des Lebens, 2009

Erregung
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