Polianders Zeitreisen

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Liebes Hansaviertel, guter John Cage

26.04.2012 · poliander

Gute alte Moderne

Gute alte Moderne

Heute ist ein gerader Tag.

An geraden Tagen können alle, die John Cage in der Akademie der Künste besuchen, in das Zimmer mit der nachgebauten Installation 33 1/3 gehen und aus den Schallplatten wählen, die auf schmalen Leisten an den Wänden stehn. Auf jeden Plattenspieler im Raum, es sind sechs, wird eine Platte gelegt, jeder kann in Umdrehung versetzt werden. Poliander nahm Monteverdi, aufgeführt von Nadia Boulanger, ein paar Platten blieben liegen, ein paar Spieler bestückte ein Mann, der ein sehr kleines Kind vor dem Bauch trug. Die Kleine schaute klaräugig und aufmerksam. Manche Platten trudelten bald aus. Monteverdi klang und klang. Klänge, hat John Cage gesagt, interessierten ihn mehr als Musik.

An ungeraden Tagen ist das 33 1/3-Zimmer geschlossen, mit einer halbhohen Tür, einer Platte eher oder Planke, die erlaubt, hineinzusehen. An ungeraden kann man eine andere Installation besuchen, deren Eingang dann offen ist (die Tür ist so angeschlagen, dass Sie mal hier, mal da – Sie verstehn? Was da passiert, wissen wir nicht. P. reckte zwar den Arm hinein, um den weißen Band mit der Aufschrift “Essay” zu greifen, doch was drin steht, wird hier nicht erzählt. Wenn der letzte Tag des Monats ein 31. ist, ist das Zimmer 33 1/3 zwei Tage lang geschlossen.

Wird ein Künstler hundert, wird gern gesagt, sein Werk sei “unglaublich frisch”. Sieht man John Cage, der als Maler begann und Komponist wurde, in den Videos in und vor der Ausstellung, bekommt man tatsächlich das Gefühl, die 70er Jahre seien gestern gewesen. Liegt das am eigenen Alter?  Kann sein. Kann auch sein, dass ein paar Ideen tatsächlich noch immer radikal sind. John Cage als bildender Künstler, nie gehört. An wem das wohl liegt? P. grinst über die Gefährtin. Schöne Ausstellung, zeigt die Arbeit von John Cage und Künstlern, die ihn beeinflussten, zu ihm gehören, passen. Passt, ja.

Blätter mit zufällig aneinander gereihten Zahlen, manche halb gerahmt von Cages Bleistiftstrich. P. erinnert sich an jenes Dorf in der Bretagne, das Haus, in dem wir übernachten wollten, hatte die Hausnummer 1557. Die Straße war lang, aber so lang? Und zwischen den Hausnummern erschienen rätselhafte Lücken, da: Nr. 225, hier: Nr. 314, und jetzt: Nr. 875. Was so randomhaft aussah, erklärte sich zuletzt durch die Entfernung der Häuser vom Ortsmittelpunkt, in Metern. Wir mochten das Haus, hinter dem das Meer begann. Auch hinter dem Zahlenzufall lauert die Unendlichkeit.

“Open your window and count the stars./ If rainig count the raindrops.”
(J.C., 4’33”)

P. bewundert die Vögel auf Leitungsdrähten, ein Bild von Josef Albers, einen Künstler, den auch P. nicht kennt. Wären sie Noten, welche Klänge ergäben sich dann? Sperlings Geräusch vielleicht, oder Getaube vom Dach. Oder das ist überhaupt die Musik, die Vögel schreiben. Wir hören ja meistens ihr Alltagsgespräch. Die Tiere. Eine Tierpflegerin von Paul Klee, nie gesehn, hält ein kleines Schwein in den Armen, daneben sitzt die Sau, lange Schnauze, betörender Blick. (Klee, den KunstgewerblerInnen hier endlich mal entkommen, die verirrn sich nicht zu John Cage.) In fremden Briefen lesen darf die Besucherin auch: Cage schreibt an Jawlensky, dass er, Cage, kein Deutsch kann. Er schreibt auf deutsch: “Ich schreibe Musik. Sie sind mein Lehrer.”

Draußen ist das Hansaviertel, und da muss man dann auch noch ein bisschen bleiben. Wann wurde es nochmal gebaut? “Bei der IBA 1957 natürlich!”, das weiß Polianders Gefährte im Schlaf. Polianders hat’s vergessen, ist mehr Auge halt. Wie frisch die Luft ist, wie vertraut die gute alte Moderne. Regen beginnt. Es tropft und tropft. Die feste Kapuze des Wachsmäntelchens übergezogen, ähnelt P.s Silhouette den flachen Zipfelmützen der Akademieanbauten.

Koordinaten: 52° 31′ 4” N, 13° 20′ 46” O, Das Jahr von John Cage in der Berliner Akademie der Künste.

Reisebrief
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