1. Februar: Mit dem Zug nach Westen und Norden. In Hamburg geht der Blick auf die halb zugefrorene Alster, und noch zwei Stunden nördlich, da, wo die Fähre ablegt, hat der Ostwind das Wasser so weit hinausgetrieben, dass das Schiff erst verspätet in den Hafen kommt, aus dem Hafen fährt. Das obere Deck ist gesperrt, P. steht auf dem Zwischendeck und schaut. Im ersten Fährhafen, den das Schiff anläuft, treibt zerriebenes Eis gegen die Hafenmauer, ein halbflüssiges Sorbet mit salzigem Schmelz. Die Fähre legt ab, und bald sieht Poliander Leuchtturm und Leitfeuer der zweiten Insel. Der Nachmittag geht dahin, bald Abend ist, als Poliander vom Schiff geht. Ein Bus, ein Zimmer, ein schneller Gang zum Watt. Das Watt wird weißer.
2. Februar: Maria Lichtmess, nun wird es stündlich kälter und täglich heller. P. sammelt Steinchen am Strand. Ostwind geht. P. geht Richtung Norden. Die anderen Touristen zählt P. mit den Fingern einer Hand im pelzgefütterten Handschuh.
6. Februar: Sonnenaufgang 8:04 Uhr. Am Watt trifft P. zwei Frauen, je mit Hund, und noch einen, der den Sonnenaufgang ohne Hund betrachtet. Eine der Frauen geht rückwärts, um den Weg unter den Füßen und die Sonne im Blick zu behalten. Sie kommt aus dem Eis wie eine geschälte Blutorange und wächst, während sie übers Meer steigt zum Feuerball. Größe ist optische Täuschung. P. steht schaut, obwohl der Ostwind ins rechte Ohr pfeift. Später am Vormittag läuft Poliander auf dem östlichen Weg nach Norden und geht über die Dünen zum westlichen Strand. Man hält es nie länger als drei Stunden aus, und man muss bleiben, solange man es aushält. Fotografieren ist sinnlos, P. probiert es trotzdem.
8. Februar: Die Engel im Himmel singen Motteten von Guillaume Dufay, wenn sie auf die nördlichen Gestade hinunterschauen, die jetzt weiß, blau und fahlgelb sind. Poliander spaziert, stellt sich im inneren Ohr die Musik vor. Die Luft knistert vor Trockenheit, die Sonne leckt den Schnee, ohne ihn erst zu schmelzen.
10. Februar: „Monsterscholle beschädigt Fähre.“ Nachricht aus dem Tierreich oder vom Wettergeschehen? Eine Fähre muss im Hafen der anderen Insel bleiben. Die Uthlande, eigentlich dem Festland nah, sind jetzt wirklich weit draußen. Soviel Eis es auch gibt im Meer – man nennt es Eisgang -, einen Eisgang zu Fuß von Insel zu Insel kann doch niemand machen. Denn zwischen den Schollen ist Wasser, klar und um so salziger, je mehr davon zu Eis wird, das selbst nur wenig Salz einschließt. Abends im Kino 13 Menschen. Der Film zeigt das Meer im Sommer, von oben. Nach dem Film kommt ein großes Taxi und bringt fast alle Besucher in die Nachbardörfer. P. schaut in den Himmel. Im Winter geht der Blick aus der Milchstraße hinaus, P. sieht nur ein paar Milchrandsterne. Orion, der Jäger, aber steht groß und leuchtend im Himmel, und der große Bär gähnt gewaltig.
14. Februar: Es taut. P. schaut nach den Schollen, die sich jetzt türmen und ballen. Jedes Inseldorf errichtet auf einem Feld nahebei einen Haufen aus Weihnachtsbäumen, Baumschnitt und anderem Holz. Nun sind auch mehr Graugänse zu sehen und zu hören. Sie fliegen, sie schreien, sie setzen sich auf die Felder. Das vom Eis befreite Wasser kehrt mit dem Westwind zurück.
16. Februar: Plötzlich sind mehr Touristen da und verlangen Tee, Sanddornpunsch und Friesentorte. Der Regen trifft ein und P.s Gefährte geht vom Fährsschiff. P. ist der Gefährtenschaft entwöhnt. Doch das Mundwerk geht noch, wie sich herausstellt. Tags drauf ist das Kino drittelvoll, Hier, ruft P., Ich willn Eis, innen Schoklade, außen auch! Der Himmel draußen bleibt ungerührt wie alle Jahrtausende.
18. Februar: P. und der Gefährte gehn in die Maus-Bar. Die Musik spielt. Auf jedem Quadratmeter wippen, tanzen acht Leute. Es ist das beste und engste Konzert, das man sich auf einer Insel nur wünschen kann. Herzen singen mit, Finger schnippen in die Luft. Das Morgenhochwasser des Folgetags überschwemmt den Weg am Watt.
20. Februar: Der Gefährte und P. haben sich als Piraten verkleidet. Die Maus-Leute haben die Bar fünfzehn Zentimeter hoch mit Sand verfüllt. Alle tanzen und trinken Whisky, in den sie mit Plastepipetten ein wenig Wasser träufeln.
21. Februar: Die Feuer brannten früher, um die Seeleute zu verabschieden, deren Winter vorbei war. Hin aufs Meer, ernste Sache, wer wusste schon, was kommt. Heute kommen die heim zu Biake, die das Jahr anderswo verbrachten. Touristen wie P. gucken nur, das ist ihre Art. Ein Nachfahr der Herren des Strandes sagt, dass das Feuer zu diesen nördlichen Inseln gehört, doch die Hotelfachleute am Strand eines anderen Meeres hätten das Thema jetzt auch entdeckt. „Bike-Feuer“ täten sie’s nennen, der Mann lacht: Fahrräder brennen nicht. P. will die Biake nun sehen. Am Weg leuchten innen aufgesägte Holzblöcke brandhell die Richtung, und dann leuchten auch Feuer von der Nachbarinsel herüber. Alles verabschiedet sich vom Winter. Das Eis kam so schnell und ist so schnell geschmolzen. Wie nie, sagen die Leute. In der Nacht packen P. und der Gefährte ihre Sachen. Inselsand und Felderde bleiben in den Schuhsohlen. Die erste Fähre schwebt durch den Nebel.
25. Februar, Berlin: Morgens um fünf geht der Wind durch die Straße, P. in die Küche, Tee machen. Plötzlich draußen ein Zwitschern. Sonnenaufgang ist 7:03 Uhr, in fast zwei Stunden. Mit dem Tee im Zimmer: Durch die geschlossenen Fenster dringt Zwitschern der erwachenden, frühlingstollen kleinen Vögel. Poliander ist von der Winterreise zurück.
Koordinaten: 54° 39′ 6“ N, 8° 20′ 11“ O