Polianders Zeitreisen

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Anderer Morgen

02.12.2011 · poliander

Fünf Wochen hat es nicht geregnet, es war der trockenste Monat, den die Wetterbeobachtung verzeichnet. Heute regnet es. Du kriegst die Bahn, du liest die Zeitung, du liest sie über den halben Ring, das ist der Weg: einmal halb um den Ring, eine halbe Stunde. Treptower Park steigt hinten einer in den Wagen, der spielt die Gitarre und bläst seine Mundharmonika, leise, weit weg. Und Frankfurter geht er an dir vorbei, und ein halbes Abteil weiter bleibt er wieder stehen, der spielt gut, und du liest weiter. Und Greifswalder fährt die Bahn nicht ab, du denkst: Warum fährt die Bahn nicht?, und liest weiter. Und dann auf einmal Geschrei, eine Frau schreit: „Was geht Sie das denn an?“, und du schaust hoch, und der S-Bahn-Fahrer steht im Raum, und er fährt nicht weiter, solange der Mann seine Mundharmonika spielt und seine Gitarre, und keiner versteht das, und die Frau schreit: „Lassen Sie den Mann in Ruhe, hier ist Berlin!“, und der S-Bahn-Fahrer hat irgend ein Recht auf seiner Seite oder einen schlechten Tag oder einen schlechten Geschmack, und die S-Bahn steht immer noch, und du hörst die Harmonika, gut spielt der, und einer hebt den Kopf und sagt: „FahrnSe jetz endlich, is das nich Ihre Arbeit?“, und da geht der Mann mit der Gitarre durch den Wagen zu einer anderen offen Tür, er geht ohne Eile, ein Mädchen steckt ihm noch Geld zu, „danke“, und er steigt aus und geht gleich die Treppe runter, du überlegst, ob du sitzen bleiben willst, du kommst schon jetzt zu spät, soviel ist klar, und der Fahrer klappt die Tür der Kabine, die Bahn fährt an, haben wir hier wirklich fünf Minuten gestanden?, du faltest die Zeitung zusammen, das Unausweichliche beginnt: der Tag. Und plötzlich denkst du an Anna Seghers und den „Ausflug der toten Mädchen“ und an ihre bittere Kapitulation vor der Macht, „Sie will nicht noch einmal ins Exil“, flüsterten wir uns zu, und es war etwas, das wir kaum begriffen, damals, als noch keine von uns das Land gewechselt hatte, und selbst als du das Land gewechselt hattest, begriffst du es nicht, denn dein Exil war freiwillig, gewissermaßen, nicht mal gewissermaßen, ganz und gar, also keins. Und du denkst an jenes Bild, Anna Seghers und ihr Lächeln, und die Wölfin, die zu ihr schaut, ein wenig nach unten und doch, ohne nach unten zu schaun, tolles Foto, denkst du, das hast du doch gerade irgendwo, ja, gesehen, und da ist deine Station, unausweichlich, kein Aufschub mehr, der Tag und die Tagesarbeit, und du könntest jetzt weinen, denkst du, und du weinst nicht, du wirst dir später noch eine andere Zeitung besorgen, es ist ein Tag, an dem du gut zwei Zeitungen vertragen kannst, auch eine dritte noch, vielleicht. Und gestern starb Christa Wolf.

Koordinaten: Ring, unbedingt noch einmal lesen: Nachdenken über Christa T.
Hören: Where do you go? (Lhasa de Sela)

Buchstabenfracht
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