Polianders Zeitreisen

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Rare Freude: roman unserer kindheit

30.10.2011 · poliander

Gut geschrieben

Gut geschrieben

Kaum einer, der schreibt, kann die Finger bremsen, ein Kindheits-, ein Jugendbuch zu schreiben, “autobiographisch”, mindestens “authentisch”, Metapherngräber mit falschem Schmerz und echter Sentimentalität. Aber, protestiert Polianders Gefährtin, es gibt doch Wolframs Parzival, den Grünen Heinrich, den Zögling Törless und alles, was Irmtraud Morgner über Geburt und Kindheit schrieb, lange Passagen der Salman-Trilogie! Ja, P. gibt es zu, und den Roman der Drachentochter, den sogar besonders, wenig Larmoyanz, viel Spracherfindung! Soll niemand denken, da käme nichts mehr, denn da kommt das Sprach-Rettungsboot, das die Leserin aus den Wogen des Banalen Meeres rettet: P.s Gefährtin nämlich fand in einer Buchhandlung, die gesteckt voll war mit Büchern, die Sonnenblumen, fotogerecht präparierte Speisen und leichtbekleidete Blonde auf dem Umschlag zeigten, den roman unserer kindheit von Georg Klein, ein Buch, das im letzten Jahr einen Preis bekam, obwohl es weder leichte Lektüre ist noch in den restaurativen Zeitgeist passt.

Eine Gruppe Kinder, in deren Zentrum Älterer Bruder, Wolfskopf, Schniefer, Ami-Michi und Schicke Sibylle stehen, viel mehr noch rennen, radfahren, hinken und krauchen, schon an den Spitznamen fühlt man die Bundesrepublik jener Zeit, in der Kühlschränke schon Einzug gehalten hatten, Fernseher aber noch selten waren, jene Gruppe Kinder aus der Neuen Siedlung also durchfährt einen Sommer, in dem es an nichts fehlt, was uns zuletzt mit wüster Erfahrung und mystischem Mut ausstattet. Er beginnt mit Blut, das aus einer Fleischwunde tropft, die der Ältere Bruder sich bei furioser Radfahrt mit Wolfskopf zuzog, “es blutet und blutet”, weswegen er nach der Verarztung und während der sich dahinziehenden Heilung von der Mutter kurzerhand in einen derzeit ungenutzten Kinderwagen verfrachtet wird, ein tolles Gefährt, das die Autorität des Älteren Bruders unter den Kindern keineswegs untergräbt. Das Unterwegssein der Kinder an den Rändern der Siedlung und auf der Grenzlinie der Erfahrung öffnet den Blick auf die perforierte Zeitachse im Leben der Erwachsenen, ihr Vorher und Nachher, das vom Weltkrieg (und der eigenen Beteiligung daran, darin)  über Liebesverrat, Trunk und Kartenspiel und dunkles Geschäft bis zu erwartbarer Krankheit und  künftigem Tod reicht, alles nebeneinander, wenn auch nicht gleichgewichtig, doch in der zugleich umfassenden wie fragmentarischen Erfahrensweise, die noch nicht vom Sortieren und Analysieren geprägt ist. Das Panoptikum wird gezeigt von einer Erzählerin, die sich selbst nur wiederum fragmentarisch nach und nach zu erkennen gibt. “Mein Haus hat keine Fenster”, sagt sie, und doch weiß sie, aus welchem Jenseits nur?, alles, auch die Zukunft, und erzählt dies so nebeneinander wie in einem Comic, der den Blick mal hier-, mal dorthin schweifen lässt, mal die Mutter zeigt, die kalten Nescafé trinkt im Un- und Übermaß, mal ein puppenspielendes Fröhlich-Mädchen, dann wieder Menschen wie den Junghanns-Doktor, den nur vielleicht blinden Fehlharmoniker und Kommandant Silber. Und all die anderen. Und wo findet man den Wellensittich wieder?

Nein, P. erzählt die Geschichte hier nicht nach, nur soviel, dass es am Ende darum geht, Sibylles kleine Schwester zu finden, gruslig genug: zunächst ihre Schuhe an schmutzigen Orten, in einer phantastischen Reise durch reale Keller und überreal scheinende Wurzelbüschel, bleiche Finger eines Baumes, die ihren Weg nach unten durchs Mauerwerk bahnen, Verderben und Entkommen und Voranschreiten der Kindergruppe in einer phantastischen, nicht aufhaltbar vorrrückenden Phalanx.

Und ja: die Sprache, in der kleine Episoden immer auf das Ganze verweisen, die Leserin in den Beschreibungen einfachen Geschehens immer die Welt dieses Romans und immer die Welt erfährt. “Das ganze Hin und Her, das Völlig-aus-dem-Aug-Verlieren, das bang werdende Suchen, das triumphale Doch-noch-Wiederfinden, das Rennen und das Reglos-Lauern, all das ist eine wunderbare Jagd geworden. Sogar die Kleinen, die einer nach dem anderen aufgeben mussten, weil die Verfolgung des türkisen Vogels sie so weit wie nie vom Hof wegführte, haben gespürt, dass sie an einer großen Sache Anteil hatten. Im Elsternhorst, genau vis-à-vis der Lichtburg, dürfen die Übriggebliebenen Atem holen. Der Sittich hat einen Schwarm junger, am Anfang dieses Sommers geschlüpfter Sperlinge entdeckt, die auf dem Flachdach des Kinos durcheinandertschilpten. Kaum dass er gelandet war, verstummten sie und fingen an, in einem merkwürdigen Eifer auf dem weißgetünchten Beton herumzupicken.”

Koordinaten: Unbedingt lesen. Georg Klein, roman unserer kindheit, Rowohlt.

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