Als sie aus Rumänien zurückkehrte, legte sie mir ein Buch hin. Sie hatte es dort gekauft. Sie hatte auch ein Brot gekauft, dort, es war nun hart und trocken. Wir brachen es in Stücke und aßen davon, wir tranken auch Wein. Ich weiß nicht mehr, ob sie den Wein brachte oder ob ich ihn gekauft hatte. Ich weiß das Jahr nicht, ein Jahr in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, unbedingt vor 1988. Viele Jahre bleiben da nicht. Als sie ging, in der Nacht, umarmten wir uns. Ich war über meine Gefühle nicht im klaren. Auf dem Tisch sah ich die leere Weinflasche, das Brett voller Brotkrümel und das Buch. Es war eine Broschüre, ein Streifen helles Violett über den Umschlag. Der Titel lautete “Drückender Tango”. Ich las das Buch an einem Nachmittag, als schwüle Altweiberluft im Hinterhof stand, es war Herbst, es war ein Arbeitstag, heller Nachmittag. Manchmal gewährte uns die Chefkorrektorin einen Hauslesetag, dann lag ich auf der Schaumgummimatte, die das kleinere Zimmer ganz ausfüllte, und las. Lesen war die Arbeit, für die ich bezahlt wurde, nämlich dafür, in Gelesenem Fehler zu finden. Das Pensum betrug 30 bis 50 Seiten, je nachdem, wie groß die Fahnen waren. An den Hauslesetagen betrog ich den volkseigenen Verlag und las, ohne nach Fehlern zu suchen, ohne auch nur die Fahnen in die Hand zu nehmen, die ich zu lesen hatte. Ich erhöhte aber das Pensum.
An diesem Tag las ich das Buch “Drückender Tango'” von Herta Müller. Die Lektüre warf mich grob in das Kindheitsdorf, in den Geruch gärender Obstrückstände vom Saften, den Anblick der von Kalk geätzten Fingernägel des Baufacharbeiters, der in Berlin arbeitete und am Wochenende die Abiturientin (mich) mit dem Motorrad nach R. fuhr, in das Haus seiner Eltern, grob in die Geräusche und Gerüche der Tiere in den Ställen, grob in den wachsigen Dunst, der beim Schlachten hochkam und nicht aus dem feuchten Hof jener Elternbauern wich. Ich hörte das Kreischen vom Sägewerk in meinem Kindheitsdorf, und mein Hals war eng um die nie verwundene Scham, dass die Pastorentochter, deren Freundin ich gern gewesen wäre, nicht zur Oberschule durfte wie ich, und auch ich durfte nur, weil der Genosse Vater beim Schulrat intervenierte und ich log, ich würde Chemie studieren. Später studierte ich keine Chemie und beschmutzte das Nest, aus dem ich gekrochen war. Denn es war danach gewesen.
In diesem Buch, einer dünnen Broschüre, die 1984 in Bukarest erschienen war, wurde ein Nest beschmutzt, das, politisch gesehen, phantastisch schrecklicher war als alle Nester, die ich kannte, die Fallen, von denen wir Kinder wussten, dass dort Unsagbares geschah. Phantastisch bedeutet, dass man einen Sinn für Absurdität besitzen sollte, um sich angemessene Phantasien zu machen, von Rumänien, das ich nur von der Durchreise kannte, also nicht kannte, genauer: kannte aus Erzählungen von Freundinnen, aus Gerüchten (alle waren wahr). Es es war der Rand der Welt. In der Hauptstadt schossen Leute mit Gewehren auf Spatzen, um die Vögel zu essen. Das hatte ich gehört. Und Müllers Buch ging über das Leben der Jugendlichen und ihrer Eltern, der Bauern, der Nachbarn, von denen man noch das Schwarze an der Innenseite des Kragens wusste und wie viele bei denen in das gleiche Badewasser stiegen, nacheinander. Bei den Deutschen in Rumänien waren es mehr als bei den Deutschen in Thüringen. Aber der Geist. Ich glaubte dem Buch, denn sie waren auch frommer und gebügelter, enger und heimlicher mit den Körpern, die zugleich, je kleiner das Dorf, um so öffentlicher preisgegeben waren. Ich kannte das ganz genau, ich verstand eigentlich nichts, ich verstand weniger als nichts. Meine Freundinnen liebten Rumänien, die Leute, sagten sie, nicht die Herrschaft. Herta Müller hatte das Dorf verlassen und lebte in Berlin, wie ich, auch nicht wie ich: in Westberlin. Ein funzliges Licht ging an in dem Kindheitsdorf, meiner Blackbox. Die Dinge, die sie schrieb, hatten den Geruch von Dingen, die ich kannte. Wie hatte das Buch die Zensur passiert? Hatten die Zensoren es nicht gelesen? Hatten sie es absichtlich durchgelassen, um Müller zu verleumden, vor den Deutschen in Rumänien, vor sich, vor uns? Ich hörte aus Westberlin, dass es ihnen so gut gelang, dass die ausgereisten rumäniendeutschen Schriftsteller, dass Müller, dass sie sich auch im Westen noch bedroht fühlen mussten. Die Motive der herrschenden Klasse blieben im Dunklen oder waren ganz einfach: herrschen.
Bevor ich Ostberlin verließ, sorgte ich, dass “Drückender Tango” auf einem sicheren Weg vor mir nach Westberlin kam, denn es gab keinen Weg der Wiederbeschaffung. Als ich in Westberlin eintraf, war es schon da. Ich nehme es seither mit von Wohnung zu Wohnung. Es gibt keinen Weg, herauszufinden, ob sie, die es mir gab, ihr eigenes Exemplar von Wohnung zu Wohnung nimmt; ich weiß nicht einmal mehr, ob sie eines besitzt. Ich nehme das Buch selten in die Hand, ich weiß, wo es steht, ich weiß die Wörter, die drinstehn. Ausreise ist so gut wie gelungene Flucht. Der Geruch, der aus dem Gepäck steigt, schmeckt bitter.
Koordinaten: 8. Oktober 2009. Nachricht. 1980er Jahre, Ostberlin, Rumänien, Westberlin.