Polianders Zeitreisen

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Heilige Anna Mädchenmutter

29.09.2009 · poliander

Pointe St. Mathieu

Pointe St. Mathieu

Das Meer schlägt langsam, es schlägt schwer, es schlägt sanft am 31. August, doch der Wind ist fest und entschlossen. Wenn wir die Mützen nicht festhalten, müssen wir sie abnehmen, sonst sind sie hin. Das ist der letzte Tag im Jahr, an dem wir auf den Leuchtturm steigen können, der heißt Phare St. Mathieu, es ist ein so blauer Tag, so strahlend, mein Begleiter fotografiert die Inseln, die Felsen im Meer, die Klippen, an denen aus Seeleuten Fische werden, und das ist ist kein Spaß, sondern tödlich. Wer dem Wind nicht traut, der plötzlich ausbricht, dass die Haare flattern wie Fahnen, lehnt sich an die Turmwand und lässt die anderen Touristen vorbeischleichen, handnah, denn der begehbare Ring um den Turmgipfel ist schmal. Ein Junge steht bereit, das Meer zu erklären, er erklärt, er lächelt, er wartet, dass wir gehen und er im Windschatten die Zigarette entzünden kann. Mais fumez! Morgen sind seine Ferien zu Ende, morgen ist der Turm geschlossen, und im nächsten Sommer die Schule vorbei, er geht studieren, Bonne chance!, rufen wir im starken Wind, Bonne voyage! Schon sind wir mit unserem Französisch am Ende. Unten am Turm die Klosterruine, unten am Turm die Kirche, der Brunnen, das Militärgelände, Défense d’entrer, das Radar, und auch das Radar hat seinen Turm.

An der Kirche, die steht noch, finden wir die Geschichte der Heiligen Tanguy und Haude. Haude und Tanguy waren Geschwister. Tanguy glaubte der Stiefmutter, die Haude verleumdete, worin wohl verleumdet eine Stiefmutter in der Legende ein Mädchen? Nein, es wird nicht erzählt. Tanguy enthauptete die Schwester. Als er seinen Fehler und ihre Tugendhaftigkeit bemerkte, tat er Buße, wurde Mönch, erbaute auf Geheiß des großen Heiligen St. Pol Aurelian ein Kloster, St. Mathieu. Hier ist es, Ruine, durch deren Dachöffnung ohne Dach der gleichgültige Himmel scheint, zwischen den Mauern ist der Radarturm sichtbar, sie überragend.

Anne et Marie, en Bretagne

Anne et Marie, en Bretagne

Tanguy, wurde vom Ehrenmörder nun auch zum großen Heiligen, Türme heißen nach ihm. Über die Heilige Haude erfahre ich hier nichts weiter, erst später, ohne kirchliche Hilfe finde ich ihren Namen als den einer Quelle. Hier ist Tanguys Kirche, darin Introun Varia ar Chras, Notre Dame de Grace, die am ersten September Pardon gewährt. Die Kirche ist klein, bröckelnd, schlecht gelüftet, es riecht nach Schimmel, Algen, Frömmelei, und ihre erste Attraktion ist ein Automat, an dem man nicht Süßigkeiten, sondern religiöse Traktate zieht, der katholische Westen, ich kann was lernen. Ich drehe mich weg, soll das doch fotografieren, wer will. Da trifft mich ihr Blick. Ich  erkenne sie nicht gleich, weil ich das Kind nicht erkenne, das Mädchen, das ein sternenbesetztes Buch in Händen halt. Ich muss auch was lernen. „Santez Anne“: Das gelehrte Mädchen ist Maria, nicht Haude; die Frau, die ihre Hände faltet über die kluge Nachkommenschaft, ist Anna, biblische Spätgebärerin. Bisher kannte ich sie selbdritt mit Maria auf dem Schoß, die ihrerseits Annas Enkel, Jesus, hält, oder mit Joachim, ihrem Mann, an der Goldnen Pforte, wo sie einander ihr geheimes Wissen sagten, um ein spätes Kind, Maria eben. Ich werde Sainte Anne noch oft treffen, in der Bretagne, wo sie sich vermischt mit der großen Königin, Anne de Bretagne, Anna Breizh, immer wieder mit Maria, Maria als Halbwüchsiger, Maria in der Pubertät, oft Maria mit hochgereckten Armen, die Hände verbunden mit denen Annas, der heiligen Mädchenmutter, die ihr Mädchen nicht hindert, forsch auszuschreiten, die Lieblingsheilige des Finisterre, das auf bretonisch nicht das Ende der Welt bedeutet, sondern Pen-ar Bed: ihren Anfang.

Koordinaten: Pointe St. Mathieu. Als das Christentum in die Bretagne kam. Als ich die Heilige Mädchenmutter sah. 

Begegnung
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