Polianders Zeitreisen

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Am Oberrhein im Kunstverein

14.07.2009 · poliander

Rose, nie ganz Natur

Liebe kluge schöne Freundinnen,

ich schreibe euch, überraschend und selbst überrascht, vom Oberrhein. Hättet ihr gedacht, dass sich hier, zwischen Strasbourg und Karlsruhe eine Geburts- und Hauptlandschaft des Jugendstils befand? Ich nicht. Auch nicht, dass er mit Politik begann, obwohl ich mir gerade das hätte denken können bei diesen Plakaten vom Landesmuseum, kürbisgelb und feminismuslila. Nicht abschreckend genug, ich ging hin. Alle anderen waren auch da.

Es lag an Vorurteilen und meiner Ahnungslosigkeit in Fragen des Dekorativen, mit der ich nur Politik, Wirtschaft und Magie zweckbestimmt und zielführend erachtete. Aber die verbanden sich hier um 1900 auf spezielle Art, zwischen Strasbourg, Basel, Karlsruhe und Pforzheim: Kunst, Handwerk, Industrie, Architektur. Dabei hätte ich mich nur einmal umdrehen müssen am Bahnhof Karlsruhe, da hätte ich schon gesehen, wie Kunst und Wirklichkeit, ihr wisst schon, Jugendstil eben. Politische Grafik und na schön, dass war Anfang, das riss mich erst rein und dann hin, und ja, Gegenstände rissen mich hin, dann, die einfachen vor allem, ein Stuhl aus Basel, aus geraden Stücken zusammengesetzt, Büromöbel, eine maskuline Rocknadel aus Pforzheim, und das war Industrie, schon 1900, die Schmuckherstellung in Pforzheim. Und immer dieses Ineinander von Elsass, Schweiz und Baden, regionale Nähe und Durchdringung. Was von Berlin immer behauptet wird, grenzübergreifende Nähe zum Nachbarland, weas dort in Wahrheit doch nur ein Aufsaugen von Arbeits- und Schöpfungskraft ist, hier erschien sie wirklich, heute noch, heute überhaupt geht die Straßenbahn auf die andere Seite der Grenze und wieder zurück.
Und Häuser wie große Truhen, offene Konstruktionselemente. Eine Erklärerin schritt durch meinen Luftraum im Dienstmädchenkleid und schwenkte den Staubwedel aus Straußenfeder. Sie hatte das Kleid, damit sie nicht verlorenging unter den Besucherinnen und Besuchern. Aber die wirklichen Dienstmädchen begannen ihre Tagesarbeit um 6, endeten sie um 23 Uhr.  “Nixe im Goldfischteich”, schöne Sünde, nicht für sie, für sie Waschschüssel und Krug: ganz wenig geschwungen, ziemlich streng. Und im Rücken immer  das Herrenzimmer. Der dicke Schreibtisch, ich sah gleich, in welchem verschlossenen Schubfach damals die Pornos lagen und beim Sessel die Zigarrenschenbecher mit den  Tierleibern in der Aschenschale. Kürbisgelb und feminismuslila, am Ende mochte ich das Plakat. Es waren alle da, stundenlang, an einem schwülen Sommersonntagnachmittag.

Von der Magie schreibe ich nichts. Fahrt selber hin, dann werdet ihr sehen.
Alles Liebe
eure Poliander

Koordinaten: Grenzregion, um 1900, Karlsruhe, Badisches Landesmuseum, noch bis zum 9. August 2009

Reisebrief
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