Und immer fragt man sich – wo sind sie hin, die Besitzerinnen und Besitzer der Schuhe?
Mit diesem Satz beginnt der Film Jeder schreibt für sich allein von Dominik Graf und Felix von Boehm. Und folgerichtig sieht man Schuhe, einzelne, manchmal Paare, die im Straßenschmutz stehengeblieben sind, am Straßenrand liegen, halb verborgen unter Kraut und Gestrüpp, offen mitten auf dem Gehweg. Manche sehen geputzt aus, an anderen klebt der Dreck. Das Unbehagen meldet sich sofort. Schließlich die Worte: Und immer kriegt man einen Schreck. Eine irdische Hinterlassenschaft. Das wissen wir Deutschen am besten. Deshalb zeigt das nächste Bild: Berge von Schuhen.
Der Ton ist angeschlagen. Der Film erzählt von deutschen Schriftstellern und einer Schriftstellerin (Ina Seidel), die den NS-Staat während zwölf Jahren Diktatur nicht verließen, sondern diese Zeit im sogenannten inneren Exil verbrachten. Der Titel des Films lehnt sich, wie auch der Titel des vorausgegangenen Buchs von Anatol Regnier an einen Buchtitel von Hans Fallada an: Jeder stirbt für sich allein. Hans Fallada hat diesen großen Roman über den Widerstand gegen den NS-Staat 1946 binnen weniger Wochen geschrieben, er erschien 1947 im Aufbau Verlag. Dieser Roman ist großartig und von tiefer Kenntnis, tiefem Verständnis geprägt. Hans Fallada selbst jedoch war nicht im Widerstand gewesen, sondern ein Erfolgsautor, der während der Diktatur zahlreiche, durchaus sozialkritische, dabei unterhaltsame Romane veröffentlichte, die schon deshalb “durchgingen”, weil die Sozialkritik sich zumeist auf Handlungsgänge bezog, die in der Zeit der den Nazis verhassten Weimarer Republik angesiedelt waren. Fallada war sicher kein Nazi, doch auch kein offener Gegner des NS-Staats; wenn es darauf ankam, passte er seinen Text auch den Wünschen eines Joseph Goebbels an. Warum? Anatol Regnier zitiert im Film eine Selbstaussage Falladas: Ich bin kein sehr mutiger Mensch, ich kann nur viel ertragen.
Das “innere Exil” von Schriftstellern und Schriftstellerinnen ist, während die NS-Diktatur von der Geschichtswissenschaft ansonsten und mit Recht viel untersucht wird, fast eine Art Mythos geblieben. Jeder schreibt für sich allein erzählt von diesen Schreibenden, von denen manche das Land durchaus hätten verlassen konnten und es doch nicht taten, wie Erich Kästner. Ihre Geschichten und ihre Beweggründe unterscheiden sich. So versuchte der Dichter Jochen Klepper, seine jüdische Frau und deren Töchter zu beschützen, ohne dabei mit den Nazi-Behörden zu kollidieren, was misslingen musste, zuletzt beging er mit seiner Frau und der jüngeren Tochter Suizid. Andere, wie Ina Seidel, waren glühende Bewunderer Hitlers und unterzeichneten Ergebenheitsadressen und hielten, wie das NSDAP-Mitglied Will Vesper, sogar Festreden bei Bücherverbrennungen. (Und was bedeutet das Wort vom “inneren Exil” für solch einen Autor?) Der vermutlich prominenteste, sicher auch literarisch bedeutendste Schriftsteller unter den in Deutschland Gebliebenen ist Gottfried Benn, einstiger Expressionist, der sich dem NS-Staat regelrecht andiente – als Autor der literarischen Moderne wurde er trotzdem angefeindet. (Nach dem Ende der Diktatur wurde Benn zunächst kritisch gesehen und konnte nicht publizieren, doch schon 1951 erhielt er den Georg-Büchner-Preis.)
Poliander empfiehlt diesen Film ganz besonders. Von seinen beinahe drei Stunden ist jede Minute interessant, keine überflüssig.
Warum?
Weil darin eine differenzierte Auseinandersetzung mit deutscher (Literatur-)Geschichte stattfindet. Weil die Problematik von Leben und Werk von Künstler:innen so wichtig und aktuell ist wie nur was. Weil Anatol Regnier selbst zu Wort kommt und durch den Film leitet, in seinen Urteilen so vorsichtig wie genau, nie populär oder populistisch, sondern stets um Wahrhaftigkeit bemüht. Und nicht zuletzt wegen der Berichte des Filmproduzenten Günther Rohrbach, der selbstbeobachtend kritisch über seine Kindheit und Jugend im NS reflektiert. Diese persönlichen Bemerkungen eines Zeitzeugen wären einen eigenen Film wert; Jeder schreibt für sich allein wird auch durch sie so besonders sehenswert.
Und um den wichtigsten Grund zu nennen: Jeder schreibt für sich allein weist uns, die Zuschauer und Zuschauerinnen, hin zu ernster Selbstbefragung. Und damit sollte niemand voreilig und allzu leicht fertig werden.
Koordinaten: Jeder schreibt für sich allein. Regie: Dominik Graf und Felix von Böhm. Nach dem Buch von Anatol Regnier. Das oben abgebildete Plakat und weitere Informationen: Verleih.