Polianders Zeitreisen

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Augen auf, wenn Sie auf Zeitreise gehen

16.06.2023 · poliander

Liebe Leserin, lieber Leser,

heute ist der 16. Juni, ein wichtiger Tag für P.

An einem 16. Juni reisten wir über die Grenze nach West-Berlin. P.s Gründe waren privat. Doch während der Wartezeit – ja, man musste warten und viele Anträge stellen – stellte sich heraus, wie politisch das Private war. Der Weg, nach allem, was P. damals wissen konnte, war ein Weg ohne Rückkehr. Sogar die Staatsbürgerschaft musste P. ablegen, genauer: P. musste die eigene Ausbürgerung beantragen, hätte sie gern behalten, nur: Auf der anderen Seite des Schalters, an dem man den Antrag auf die Erlaubnis zum Umzug abgab, saßen Leute, die wollten, dass das Zurück definitiv versperrt wäre.

Auf den ersten Blick sah die Stadt West-Berlin der Stadt Berlin-HauptstadtderDDR ähnlich, es war groß, in den meisten Straßen ziemlich grau, aber auch sehr grün, grüner jedenfalls als Halle-Saale-Hauptbahnhof oder, wie P. später sah, Stuttgart-Innenstadt.

Auf den zweiten Blick war West-Berlin eine Stadt, in der der 17. Juni als Feiertag begangen wurde. P. verstand nicht ganz, was sie hier mit dem DDR-Aufstand zu tun hatten. Aber immerhin erinnerte man sich noch daran.

Berlin war eine Stadt, das ließ sich nie leugnen. Ob es ein oder mehrere Deutschlands gab, war P. nicht wichtig. Was P. wichtig ist: in jedem (Deutsch)land, das es gab, in jedem Land in Freiheit zu leben.

Heute möchten viele vergessen, wie das Leben in der DDR war, oder die Geschichte umschreiben, verklären, manches verdunkeln, anderes heller erscheinen lassen, je nachdem.

Ist die Geschichte eine Blackbox, ein Container mit unbekanntem Inhalt?

Es gibt Dokumente, es gibt Erinnerung. Geschichtsschreibung verlangt Zeugnisse und historischen Abstand. Erinnerung beinhaltet auch Hörensagen. Das ist der Unterschied.

P. muss kein großes Ding daraus machen, in der DDR gelebt und sie verlassen zu haben. Ja, liebe Leserinnen und Leser, es war unser Leben, auch dort. Wir hielten zusammen, oft, Freundschaft war wichtig, auch dort, und manchmal hatten wir, machten wir Spaß, auch dort. Wir haben viel gelacht, doch nicht jedes Lachen war ein Zeichen von Heiterkeit. Es gab Freundinnen und Freunde – so, wie es Freunde und Freundinnen überall auf der Welt gibt. Wenn es zum Konflikt kam, bewiesen sie sich – manchmal auch nicht. Es gab Liebe, es gab auch Verrat, und der ging bis in die kleinste Zelle der Gesellschaft, die, die man Familie nennt. Wenn du verraten wurdest, konnte es geschehen, dass das ins Leben eingriff, dass das Leben sich tiefgreifend veränderte. Und wenn es sich nur tiefgreifend veränderte, konntest du von Glück sagen, denn manche Leben veränderten sich durch Verrat auch auf schreckliche Art. Und ja, den Verrat von Freundschaft kann es überall geben. Aber nicht überall ist der Verrat systemimmanent.

Viele von uns hatten schon als Kind begriffen, was du an welchem Ort sagen konntest und was besser nicht. Das ist das Gegenteil der Freiheit des Wortes.

An diesem 16. Juni schreibt P. zwei Dinge auf:
1. Die Freiheit des Wortes ist eine große Sache. Und mit der Freiheit des Wortes geht einher, dass andere so frei sind, dir zu widersprechen.
2. Jedes einzelne Grundrecht gilt. Und mit jedem Grundrecht geht einher, dass es nur so weit gilt, dass es die Grundrechte von anderen nicht verletzt.

Liebe Leserin, lieber Leser,

lassen Sie den Container nicht einfach abtransportieren. Machen Sie die Kiste auf, schauen Sie hinein. Wir wünschen Ihnen offene Augen, offene Herzen und einen ehrlichen Blick in die grundtiefe Vergangenheit.

Herzlich grüßen
P. und Gramann

Koordinaten: West-Berlin. 17. Juni. Grundrechte.
Leseempfehlung: Matthias Jügler darüber, warum Bücher über Ost-Identität gerade so erfolgreich sind.

Persönliches PS: Mit Bananen hatte P.s Ausreise nichts zu tun. Diese stärkehaltigen Früchte mochte P. noch nie sonderlich und mag sie bis heute nicht. Niemand wechselt das Land nur wegen Bananen. Wegen Freiheit schon.

Reisebrief
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