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Kranz oder Krone (78) – einander wieder sehen

07.06.2021 · poliander

Wiedersehen: Menschen, mit denen wir befreundet sind, Menschen, mit denen wir bekannt sind, Menschen, die wir jetzt kennenlernen.

In einem Hinterhof stehen, ungleichmäßiges Pflaster und struppiges Gras unter den Füßen, improvisierte Sitzgelegenheiten, manche setzen sich gleich auf den Boden. Eine freundliche Hand reicht ein Kissen. Manche lehnen an der Wand einer Remise. Nach drinnen gehen, eine Limonade holen, ein paar Bilder ansehen, einen Text lesen. Wieder draußen zwei Menschen einander vorstellen.

Sich etwas, jemandem jemanden vorstellen. Etwas vorstellen. Einen Text. Zum Beispiel.

Sie beginnt, sie hält inne, die Gastgeberin. Sie liest ein Gedicht von Friederike Mayröcker. Friederike Mayröcker starb am letzten Freitag, am 4. Juni 2021. Erinnerungen brechen herein. Le chien c’est moi.* Der Gastgeberin zuhören. Dankbar sein, dass sie, jetzt, hier, an Mayröcker erinnert, dankbar sein, dass alle wissen, wer das war. Vielleicht kennen wir uns nicht, aber wir kennen uns.

Nach einer Weile haben wir den Ort gesehen, uns umgesehen: die alten Schornsteine an der rückseitigen Hausfassade, ein Muster aus Ziegelsteinen. Die Menschen in oft getragenen und oft gewaschenen Kleidern, die schon ganz weich aussehen, die leichten Hosen, die leichten Haare, das bunt bestickte Kleid. Die Remise, die nicht saniert, die Fassade, die nicht renoviert wurde. Wir reden ein bisschen, die anderen reden auch ein bisschen. So viel Gespräch, so viel Unterbrechungen, sind wir noch daran gewöhnt? Wir setzen uns irgendwohin, eine liest, einer, wir anderen hören zu, wir lesen selbst. Ich habe nicht vergessen, wie man ein Mikrofon hält. Ich habe vergessen, wie ich praktischerweise umblättern kann, während ich in einer Hand das Buch, in der anderen das Mikro halte. Ich bin ungeschickt, ich unterbreche, ich entschuldige mich. Ich lese trotzdem. Ich sage danke, als die anderen klatschen. Ich verschlucke das Wort Verhängnis, obwohl es da hingehört, an diesen Ort, an dem ich das Lesen abbreche, in diese Zeile.

Ich fühle mich erschlagen von Worten. Es war keine große Dosis.

Einander wiedersehen, einander wieder sehen. Wir gehen langsam mit unseren von Zeitschriftenexemplaren beschwerten Rucksäcken. Wir reden zum zweiten Mal in weniger als einer Woche mit der guten Freundin. Wie lang haben wir uns nicht gesehen, dann: uns nicht oft gesehen. Da ist ein Lokal, wir setzen uns einfach und bestellen Essen und Getränke. Nach mehr als einem Jahr essen wir von Porzellantellern, obwohl wir jetzt gerade nicht zu Hause sind. Wir legen die Melonenschale, die vom Schnitz übrigblieb, der am Cocktailglas klemmte, auf einen eigens dafür vom Kellner hingestellten kleinen Teller. Auch der Kellner ist glücklich, vielleicht ist er der Chef, wir hören Vergnügen in seiner Stimme. Wir sind da, er ist da, die anderen sind auch da. Würden wir uns beschweren, wenn es jetzt noch länger dauerte mit dem Essen? Überwöge trotzdem die Freude? Wir reden und reden. Die Freude überwiegt. Wir teilen sie.

Die Freude, dass jemand Friederike Mayröcker einen stillen Moment widmete. Dass wir gemeinsam schwiegen. Zuerst hatte ich geschrieben: dass jemand Friederike Mayröckers Tod einen stillen Moment widmete. Aber ist es nicht ihr Leben, dem dieser Moment gewidmet wurde? Ihrem Leben? Ihrer Anwesenheit? Ihrer Arbeit? Ihrer Lebensarbeit, Schreibarbeit. Ihrem Aufenthalt auf Erden. Ich suche nach Worten. Ich ringe. Könnten wir sagen, wir haben uns das gewünscht? Diesen Augenblick, um an Friederike Mayröcker zu denken. Wir können es einfach auch nicht besser sagen als die FAZ. Mayröckers Verse wohnen uns schon im Blut. Wir sehen einander an und bewundern unsere Erinnerung, jede für sich. Sie ist nicht fort.

Dankbarkeit für unsanierte Hinterhöfe.

Koordinaten: Weißensee.
Covid-Zahlen: 3.700.367 (Zahl laut täglichem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 06. Juni 2021). Genesene: ca. 3.538.000 (vom RKI geschätzter Wert zum gleichen Datum). Einmal geimpft: 36.999.375, zweimal geimpft: 17.240.975 (beide Zahlen laut dem Lagebericht vom 5. Juni 2021, RKI-Website zuletzt abgerufen: 6. Juni 2021).
* Text zu einer Zeichnung Friederike Mayröckers.

Kranz oder Krone
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