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Kranz oder Krone (60) – Baustellen und Offices. Ein Brief

14.06.2020 · poliander

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

draußen das Geräusch, das monotone Tschilp der Sperlinge. In der Schwüle löst sich der Geruch der soeben aufblühenden Linden und kommt mit dem Luftzug ins Zimmer. Er legt sich über die Unordnung im Büro. 90 Tage, 60 Einträge. Und noch ein paar unnummerierte. Später: Regen, Gewitter, Regen. Dann Nacht. Aus dem CD-Player erzählt Michael Rotschopfs Stimme Marcel Proust. Sodom und Gomorrha. Leises Rauschen vor dem offenen Fenster.

Dann Tag. Sonntags bleiben P.s Gedanken privat, eigentlich, aber im Office sind Arbeit und Sonntag durcheinandergeraten. Von Entschleunigung kaum eine Spur. Wer hat sich das bloß ausgedacht, dieses Wort?

Ein Vierteljahr seit dem Corona-Down. So viel Abstand zu so vielen Menschen. So viel Kreidezeichnungen auf der Straße. P. sah einen Glückwunsch für ein Mädchen, darin stand: “Du bist mit Abstand die Beste.” In all den Kreidezeichnungen war Zauber. Auch im Tapp-tapp der Jogger!nnen. Im Tschilp.

Genervtheit: P. will in Mitmenschen nicht immerzu potentielle Anstecker sehen. Und doch registriert sie die Abstände genau und wie weit sie sind. Näher, weiter, genau.

Das Tschilp möge bleiben.

P., als Passantin, passiert täglich Baustellen. Berlin ist ständig im Bau. Bauarbeiter arbeiteten auch während des Downs jeden Wochentag, oft auch sonnabends. Wie schafften sie das bloß, in Nähe und Distanz? Gerüste wurden errichtet und wieder abgebaut, Dächer repariert, Fassaden erneuert.

Am meisten Eindruck macht der Dachausbau. Dafür werden provisorische Dächer über die Dächer gehoben, die geöffnet und mit Ausbauten versehen werden.

In P.s Arbeit gibt es viele Baustellen. Nähe und Distanz ist eine davon.

Sonntagnachmittag: Vielstimmiges Gesinge und Getschilpe. Hummeln und Bienen. Kleine schwarze Insekten, die P. nicht kennt. Stimmen. Blüten öffnen sich mit nur selten wahrnehmbaren Geräuschen. Aber sie sind da. Noch immer sind Flugzeuge und Kondensstreifen seltene Erscheinungen am Himmel über Berlin. Wenn Sie P. fragen: Die sich hinziehende Rückkehr der Flugzeuge ist ihre geringste Sorge. Eher denkt P., dass die noch früh genug wieder die Atmosphäre stören werden. Und wo sind die Bussarde geblieben? Umgezogen?

“Der Himmel über Berlin” ist ein Film. Ein Engel sagt darin: Manchmal wird mir meine ewige Geistesexistenz zu viel.

Die körperliche Existenz war lange in die Homeoffices dieser Stadt eingesperrt, in geistige Tätigkeit geronnen. Manchmal joggten Teile der körperlichen Existenz über die leeren Straßen. Jetzt wagen die Körper sich wieder heraus, tragen schöne Kleider und verteilen sich in die Restaurants. “Einen Apéritif bitte.” Einen Kaffee, ein Glas Wein, “ach, und bringen Sie mir doch ein Lachen bitte.” Am Tisch sitzen Menschen aus zwei Haushalten. Umarmungen werden nicht gereicht.

Und noch immer sind die Kinos geschlossen. Am 2. Juli sollen sie öffnen, auch P.s Lieblingskino. Klicken Sie hier, liebe Leserin, lieber Leser, und sehen Sie sich die Clips aus dem Bundesplatz-Tagebuch an. Solang sie da noch stehen. Auch Tagebücher sind Baustellen des Geistes.

Ja, und lüften. Lüften Sie Ihr Office, lüften Sie das Büro! Lüften Sie die Winterkleider, ehe sie in den Tiefen der Schränke verschwinden, um den Sommerkleidern Platz zu machen, ganz vorn. Lüften ist wunderbar. Die Erreger werden verdünnt, Gedanken fliegen hinaus, Tschilpgeräusche kommen herein. Und wenn wir nachts weiterlüften, kommt auch die frische klare Luft. Auch erfrischte Gedanken kehren zurück, manchmal in Zeilen verwandelt, in Verse.

Ah.

Corona heißt Kranz oder Krone. Eine Corona, das war mal ein verbreiteter Ausdruck für einen Kreis von Freunden und Freundinnen, ein bisschen antiquiert, ja, aber sehr charmant. Freundinnen und Freunde zu haben ist natürlich überhaupt nicht antiquiert. Und während wir noch, ein Provisorium in unseren Leben, wegen Covid-Nr.-19 körperlich oft Distanz halten müssen, behalten wir geistige Nähe und Gegenwart, suchen Austausch und erfrischende Lüfte auf ihrer Reise durch das eigene Zimmer, durch Offices und Baustellen. Bleiben Sie heiter!

Das wünscht Ihnen
Ihre Poliander

Koordinaten 1: Der Himmel über Berlin
Koordinaten 2: 186.269 (Zahl laut Robert-Koch-Institut vom 14. Juni 2020, 0 Uhr, online aktualisiert 14.35 Uhr). Genesene: 171.900 (vom RKI geschätzte Zahl laut Lagebericht vom 13. Juni 2020)

Kranz oder Krone · Reisebrief
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