Polianders Zeitreisen

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Poliander im Land der Kohle (2)

19.07.2019 · poliander

Sie ist 1000 Jahre alt, sogar 1011, und als P. und der Gefährte vor ihr ankommen, ist es heiß, es ist trocken, die Sonne steht unverrückbar am Himmel, die Sommerzeit steht still. Eine Hochzeit gerinnt zum Standbild. P. wartet. Die Kirchentür steht offen. Der Gefährte und P. drücken sich an den Hochzeitsgästen vorbei.

Löwe, Dorfkirche Stiepel. Foto: Gramann
Löwe, Dorfkirche Stiepel.

Bochum ist älter als man denkt. Jedenfalls älter als P. bisher dachte. Vor viertausend Jahren waren Menschen hier, die Spuren hinterlassen haben. Im 9. Jahrhundert wurde Bochum in einer Urkunde des Benediktinerlosters Werden erwähnt, im Heberegister. Das lassen wir jetzt mal andere erklären. Jedenfalls bedeutet die Existenz einer solchen Urkunde: Da waren schon etliche da. Denn das war ein Rechtsakt, da brauchte man Leute. Vielleicht hatte Karl der Große schon um 800 einen Reichshof anlegen lassen, und in dem Fall waren sogar viele Menschen da. Wo heute die Städte Dortmund und Essen stehen, also an Orten, die heute zu diesen Städten gehören, existierten Königspfalzen. Und in der villa stipula gab es einen Haupthof, der zu solch einem Reichshof gehörten. Wo ein Hof ist, ist auch ein Herr. Und, wir verkürzen das jetzt, der Frau dieses Herrn, Imma, wurde 1008 die Erlaubnis erteilt, auf diesem Hügel eine Kirche zu errichten.

Stiepel, freigelegtes Kapitell, oben, innen
Stiepel, freigelegtes Kapitell, oben, innen.



Vielleicht war das ein Kirchlein, zuerst. Dann entstand eine Basilika, mit nur zwei Jochen, wie man zugeben muss, später dann einer Halle. So entstand ein Raum von begrenzter Größe, der doch, wie fast alles in der Romanik, monumental wirkt.

Da kann eine lange stehen und rumschauen. Es ist hell und kühl, draußen heiß. Manchmal eine Stimme aus der Hochzeitsgesellschaft, die sich draußen aufhält, Sekt und Glückwünsche, Fotos und so weiter. Da kommt jetzt ein Chor herein, beginnt sich einzusingen. Ist jemand Offizielles hier? Von der Kirchgemeinde vielleicht? P. fragt, ob sie bleiben können. Der Offzielle nickt. Er wirkt auch überrascht. Aber die Kirche ist belebt, auf einmal, und das ist schön. Eigentlich ist es zu laut, was sie da singen, als sie sich eingesungen haben, der Raum, monumental oder nicht, zu klein für die Lautstärke: Gospel. Good spel, das heißt: gute Nachricht. Kann gar nicht laut genug sein, denken sie vielleicht, und es passt doch, in diese ernste romanische Anlage. Passt zu den gemalten Teppichen, die an den Mauern zu hängen scheinen, zu den Bögen, den Bildern, zu dem Drachen ganz oben, in dessen hoch gelegener Ecke es noch dunkler ist als in der des Löwen. Fotografieren geht gar nicht. Sie gehen herum, leise leise, hören zu, leise leise. Fotografieren geht doch.

Stiepel, Flucht nach Ägypten
Stiepel, Flucht nach Ägypten.

Was wollte ich gleich sagen? Wir sind mitten im Ruhrgebiet. Aber auch auf dem Weg nach Ägypten. Das Schöne an der Romanik ist, dass man die Zeichen leicht deuten kann. Esel, Mann, Frau, Kind: Flucht nach Ägypten. Und das bedeutet: Mann und Frau wollten bleiben, doch sie mussten gehen. Das Baby und der Esel, die wurden gar nicht gefragt. Es geschah zum Besten des Kindes, dessen Altersgenossen politisch verfolgt wurden, ermordet, ohne dass sie auch nur die kleinste politische Handlung begangen hätten. Gut, dass es den Esel gab, der Mutter und Kind tragen konnte.

Du suchst die Vergangenheit und findest die Gegenwart.

Kohlen haben P. und der Gefährte an diesem Tag nicht gesehen, Förderanlagen schon, still liegende, unterwegs. Warum ist es an der Ruhr so schön? Altes Kulturland. Die Sonne brannte heiß, an diesem Tag des Besuchs. Als sie aus der Kirche traten, saßen noch einige Hochzeitsgäste auf den Grabsteinen und ruhten sich aus. Und um die Ecke feierte die Kirchgemeinde ein kleineres Fest. P. und der Gefährten nahmen den Löwen und den geflügelten Drachen als Bilder mit. Kultur, ja. Aber auch Kellerbier.

Koordinaten: 51° 24′ 59” N, 7° 14′ 7” O.
Alle Fotos: Ulrike Gramann.

Begegnung
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