Polianders Zeitreisen

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Friedenau hören stundenlang

23.03.2016 · poliander

Durchblick gewinnen

Durchblick gewinnen, der Stadt zuhören

Der Winter, so unverhältnismäßig warm er war, nimmt im März kein Ende. Trügerische Sonne, eispfeifiger Wind. Der fitscht erst recht durch die Straße, wenn die Sonne tagelang nicht scheint. Lila und blau stehen Krokusfelder, übern Kopf wird weiter die Kapuze gestülpt und nur einmal wieder abgenommen: wenn nach dem Stop beim Süßkramdealer die Hörer auf die Ohren kommen. Mütze wieder drauf, und gleich stehengeblieben an der Laterne zwischen S-Bahn, russischem Supermarkt, Kino Cosima und eben dem Süßkramdealer, auf dessen Lockungen kommen wir später zurück, jetzt erst einmal, kaum haben wir das Gerätchen angeschaltet, an dem die Kopfhörer hängen, schwingen wir das Bein. Gleich stehen Leute hinter uns, machen mit. Wissen die etwa, was wir hier tun?

Berlin ist ein Geschrei geworden, gut, war’s immer, nur haben wir’s früher nicht so bemerkt. Hier in Friedenau aber hat die bürgerliche Ruhe ihr Zuhause gefunden, scheint’s. Weckt sie nicht! Geht trotzdem los, ihr Lieben. Nicht mal hundertfünfzig Jahre vor heute, da waren wir hier vor den Toren Berlins. Sind heute noch außerhalb des S-Bahn-Rings. Grad so. Lange hier lernen wir heute was über die Gegend. Zum Beispiel, wo so viele der Bronzen gegossen wurden (werden), denen wir in Berlin begegnen. Dem Berliner Bären zum Beispiel von Renée Sintenis (jederzeit, überall) und auch ihrem grasenden Fohlen (später dann, auf dem Renée-Sintenis-Platz). Also die Gießerei Noack, großes Namedropping, große Kunst, viele Künstlerinnen und Künstler, bei uns endlich großes Verstehn. Warum wussten wir nicht, dass die doch hier ist, schon und noch immer? Weil wir vorbeieilten, auf dem Weg zu Verabredungen beim Kneipenkollektiv paar Ecken weiter, Verzeihung, Leute, wir sagen nicht wo. Heute eilen wir nicht, wir haben Zeit unter den Fußsohlen, Stadt im Ohr.

Heute gehen wir an Marlene Dietrichs Grab nicht vorbei, bleiben stehn, Friedhofsspaziergänger, denen Kälte in die Jacken kriecht. Die ignorieren wir, in den Ohren die Geschichte, wie Marlene, obwohl tot, eine Demo auslöste. In einer Stadt, in der jedes Jahr über 3000mal demonstriert wird, keine Seltenheit? Mag sein, doch die war speziell. Wir verraten nicht mehr. Nur unser Verhalten ist verräterisch: Als wir vorm Haus jener Boygroup mit der tragischen Geschichte stehen, einer politischen Geschichte, stellen wir gleich mal klar, kommen Leute vorbei, kichern uns an: “Süßkramdealer?” Wir nicken.

Fünfzehn Stationen, da sputen wir uns. Zeit haben wir genug, aber der Wind treibt uns vor sich her durch die Jahrzehnte. Polianders Lieblingsort an diesem Tag: drei grüne Häuser, revolutionäres Konzept, vor hundert Jahren: Wohnen und Arbeiten, Gemeinschaftsleben und Sonnenanbetung auf dem Dach, gekocht für alle wurde im Keller. Hielt nicht lange vor: Weil revolutionäre Architektur die Leute noch lang nicht ändert, wurden dann doch Küchen eingebaut. Leute gehen aus und ein, Räder lehnen an der Wand, kein Museum, keine Edelimmobilie, glauben wir, Leute gehn aus und ein, über einem Laubengang wächst Grünzeug. Hier wohnte auch Widerstand gegen den NS-Staat, Erika von Brockdorff, Greta und Adam Kuckhoff.

Fünfzehn Stationen, zwei Stunden, Leute, geht selber hin. Pudding sollte der Revolution helfen, einem Dichter gefiel das nicht. LehrerInnen und SchülerInnen probten Inklusion, als es das Wort noch gar nicht gab, die haben das gemacht, obwohl sie das Wort nicht hatten, und seitdem machen die das immer noch. (Und übrigens, daran erinnert ein Direktorinnenbrief, den wir bei der Gelegenheit auch lesen, an einem Schulzaun, als Leute: Wenn ihr einen Hund dabeihabt, Leute, nehmt Tüten mit!) Überall werden wir an die Zeit erinnert, sogar im teuren Laden wurde eine Uhr in Betrieb genommen, als die Zeit sich drehte. Auch hier werden wir an den Ohren erkannt. “Kommen denn viele?”, fragt Poliander. “Oh ja, und man erkennt sie an den Kopfhörern.” Einverständiges Lachen.

Nun aber flott, denn die letzte Station auf dem Weg durch die Jahrzehnte will erlaufen sein. Schneller sein als die Musik, die die Ohren umspült, ja, wir schaffen das, und dabei erinnert die Stadt im Ohr uns an eine Rede vom Ruck, die wir zu ihrer Zeit eigentlich piefig fanden. Diesmal pfeift sie frech ins Ohr (aus nem verzagten A kommt eben kein frommer F, rafft euch zusammen, Leute!) Und noch eine Schule ist eine Sehenswürdigkeit, auch die nicht nur architektonisch, sondern wegen der Leute. Wegen der Leute sind wir hier. Wieder mal warm werden mit der Stadt, mit den Leuten, die die Stadt sind. Und wegen des warmen Gefühls für Kammerkonzerte, Nachbarschaften und den Leuten im Ohr. Die Ohrengeräte müssen zurück zum Süßkramdealer. Was ein Glück. Da wartet heißer Mokka faux, mehr ist nicht nötig, das Herz geht längst schneller von den Geschichten.

Man muss der Stadt nur zuhören, schon schreit sie auch nicht mehr.

Koordinaten: 52° 28′ 20” N, 13° 19′ 40” O. Süßkramdealer. Stadt im Ohr. Erika von Brockdorff. Greta und Adam Kuckhoff. Renée Sintenis.

Ausgrabung
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