Armenien ist ein Land ganz aus Steinen, selbst die Buchstaben sind aus Stein und leben im Gebirge. Mesrop Mashtots suchte nach ihnen in der Bibliothek von Alexandria, erfand/er fand sie und brachte sie im Jahr 405 nach Armenien. Mesrop, ein Mönch, steht heute als monumentales, graues Denkmal vor dem Matenadaran, der schönsten Bibliothek, die P. sich denken kann. Schön wegen der Dinge, die darinnen sind, nicht des grauen Steins wegen, aus dem die monumentale Treppe besteht und die Skulpturen, die die Gelehrten aller Wissenschaften zeigen, die sind der reinste Flash von Stalinstil und Ex-Ostblock, und schön Yerevans wegen, sonst so rosenfarbig vor lauter Tuff. Später, auf der Hochebene, wo der Wind uns zum Buchstabenwald bläst, fühlt P. sich viel mehr zu Hause, viel mehr fremd, zu Hause in der Fremdheit, und bis zum Ende der Reise schaffen wir es nicht, uns die Buchstaben des armenischen Alphabets einzuprägen. Zwar lernt P., „shnorhakalut’yun“ zu sagen, doch sofort teilt die Reiseleitung mit, dass „merci“ voll ausreicht, „Bari luys, Poliander!“ Also hinein, ins Matenadaran.Bücher und Illumination sind wahre Wunder des Glaubens, wunderlich für unsere Augen: P. schaut auf Jesu Taufe, die der Täufer vollzieht, wie immer angetan mit seinem Fellgewand, doch dieses ist besonders struppig, und des Täufers Haar steht in zackenförmigen Dreadlocks vom Haupt ab. Jesus steht nackt im Wasser, mit schamhaft oder einfach frierend nach innen verdrehten Beinen. P., Gramann und Gefährten sind zu langsam für die Führung, in der doch alels so gut erklärt wird. Nur schauen. Die Reiseleitung winkt genervt. In einem anderen Buch sehen wir eine Weltkarte, in ihrem Zentrum Jerusalem, das Zentrum der mittelalterlichen Welt, links Konstantinopel, rechts Ägypten, links Asien, rechts Äthiopien, Franken und Spanien unten, Choresm oben.
Das Mittelalter, sogar die Spätantike umgeben uns. So nah dran waren wir nie, sagt P.
Am nächsten Tag ist Sonntag, Zeit des Gottesdienstes, und wer hatte das entschieden, dass wir jetzt die Kathedrale von Etschmiadsin besichtigen, „den Vatikan Armeniens“, wie die Reiseleiterin stolz sagt, hier herrscht der Katholikos. P. flüstert mir ins Ohr: über ein imaginäres Reich aus Steinen und Sternen, denn alle Sterne, sagt P., sind aus Stein. Und es stimmt, wir tauschen nur einen Buchstaben und sind im im Land der Sterne.
All diese Gläubigen, die hier zu Hause sind und sich zu Hause fühlen, für sie überhaupt gibt es diese Kirche, eine der ältesten Kirchen überhaupt, die zurückreicht in die so unendlich lang zurückliegenden Jahrhunderte, in denen jene Gegenden der Welt, in denen P. heute meistens lebt, von einer schriftlosen Kultur geprägt waren. Ein Ort für die, die die armenische Schrift lesen können, nicht für Touristen wie P., Gefährten, Gramann, denkt P. Leute bewegen sich rückwärts aus der Kathedrale, sie wollen dem Altar nicht den Rücken zudrehen, offensichtlich, andere drängen in Gegenrichtung, schieben uns hinein, dann dieser Gesang, direkt aus den Himmeln, dieser Weihrauch, der uns betrunken macht, dieses Klingen von Schellen, rhythmisch, Mönche singen in einer Seitenkapelle, in der ein anderer Gottesdienst läuft, dessen Geräusche sich mit den Gesang des Hauptgottesdienst mischen, unbewegliche Bischöfe mit schwarzen Kapuzen bis über die Augen, rot-seidige liturgische Gewänder, die Priester bahnen sich ihren Weg, P. zweifelt, ob wir hier sein sollten, Menschen küssen ein Kreuz, das der Priester ihnen hinhält. Neben uns beten und singen Menschen laut, manche filmen zugleich mit ihren Handys, für die lieben Daheimgebliebenen, Millionen Armenier wohnen in anderen Ländern, und wir sind hier an dem Ort, den alle besuchen, besuchen wollen, müssen. Deshalb filmen und fotografieren sie so ungeniert, für die lieben Daheimgebliebenen. Sie sind Gäubige von hier und zugleich Touristen von weit. In ihrem Windschatten machen auch wir ein Foto. Draußen weht Gesang über den Platz und den Garten, der von Schläuchen üppig bewässert wird, in diesem Land, das so trocken ist und staubig von all den Steinen, die die Jahrtausende zu Staub zermahlen. Die Musik dringt aus den wenigen glaslosen Fenstern dort ganz oben an der Kuppel ins Freie. P. trifft der Blick eines Mannes im hochgeschlossenen schwarzen Mantel der Seminaristen, es ist Sonntag, wir sollten hier nicht sein, wenn aber doch, dann um endlich einmal zuzuhören, denn die Musik ist, auch als Religion, den Sternen genug, den Steinen und auch uns.
So also bari luys, guten Morgen, ihr Lieben.
Koordinaten: 40° 11′ 32“ N, 44° 31′ 16“ O, 40° 9′ 42“ N, 44° 17′ 28“ O