Coincidence.
– es ist das Fahren, was P. so gern hat, fahren durch die Zeit, die wintergegerbten Wiesen, beinahe wie Steppen erscheinend am Rand der Strecke, felderweise die gerade aufgegangene Saat, handhohes Grün unterm bewegten Himmel, über den die Wolken fahren.
fahren, ahd. faran, four, mhd. varn, vour, P. fragt das Grimmsche Wörterbuch, das reine Poesie ist vom Geist der Sprachwissenschaft oder war es umgekehrt?, ein Lieblingsbuch muss ich doch haben!
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Die Brüder Grimm sagen: “gehen drückt die ruhige menschliche bewegung aus, wie ja aufrechter gang unsere eigenheit ist, fahren bezeichnet gern das raschere springen oder fliegen der thiere, und weidmännisch wird diesen fährte, keine fuszspur beigelegt. in der fabel, die ihnen menschliche weise leiht, erscheinen sie auch gehend.”
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Fahren, wir denken an wallfahren, wallfahrten, wallen zumal. Wallen: die Menschen in Mengen Richtung Leipzig, die Buchmesse im Osten. P. liebt das Fahren, den Aufenthalt in stehender drängender Menge weniger. Freilich: Bücher.
Der Tag vor der Messe. P. in der biographischen Bibliothek. Bücher in schlichtesten denkbaren Regalen / Kisten, zu Tausenden, und eine, die sich darin auskennt, gleich weiß, was gefragt ist. Belebter Raum, ein Mädchen kommt vorbei um Nachhilfe. P. sucht Nachhilfe in Dingen des Lebens, mit offenen Augen sucht P. Geschichten in den Regalen, greift ein Buch, nicht wahllos, liest:
Wir nahmen uns vor, aus dem geringsten Anlaß haltzumachen – zu diesem Zweck mußten wir unsere 18 ‘Pferde’ fest in der Hand halten. Die meisten Automobilisten fahren einher, als sei es ein Verbrechen, den ‘Zauber’ einer dauernden Raserei im Achtzigkilometertempo zu brechen. Sie kommen in einen Zustand, in dem sie alle Initiative verlieren außer der einen, vorwärtszurasen. Sie veranlassen zu wollen, einmal dreihundert Meter zurückzufahren, wäre genau so, als wenn man von ihnen den Mond verlangte – das Schweigen, mit dem sie diesen Wunsch beantworten, könnte nicht mißbilligender sein, wenn man sie bitten würde, den Wagen zu Fuß zurückzuschieben. / Wir wollten auch nicht zulassen, daß die Geschwindigkeit eine unsichtbare Mauer zwischen uns und dem Leben um uns errichtete – den Stimmen, dem Geruch eines neuen Gewürzes, der aus einem Bauernhof dringt, der Kühle einer linden Brise an einem Bach. Es war unsere Reise und nicht die des Wagens. (Ella Maillart, Der bittere Weg)
Addicted, P. weiß es längst, to words, P. will das Buch haben. (Ella Maillart hat im Jahr 1939 mit Annemarie Schwarzenbach eine Fahrt gemacht. Die Frauen fuhren von der Schweiz nach Afghanistan. Davon handelt The cruel way.) Worte und Bedauern der Händlerin: “Das hab ich noch nicht lange, und lang habe ich dieses Buch gesucht! Und nun ist es gleich wieder fort.” P. nimmt es trotzdem. Hin und fort.
Lesen im vollen Zug, die Füße auf die Ablage gestemmt im letzten Wagen des ICEs, schaut P. gradeaus, sieht sie die Strommasten in der leeren Fahrerkabine dahinfahren und klein werden, doch immer wachsen neue nach.
Leipzig, Völkerwanderung zur Messehalle. P. erleidet einen Anfall von Schüchternheit, unmöglich in den Bus zu steigen. Lass die kalte Luft gegen die Stirn prallen, während P. dorthin fährt. Ja wie die Tiere, die auch scheuen, wenn sie die Menschen in bewegter Menge wahrnehmen, auffahren, davonfahren, springen, fliegen, wie die Grimmbrüder uns erläutern / vielen Dank / auch / euch / ach / dürften wir ihnen du sagen, den Grimmschen Brüdern, vor nichts würden wir mehr scheu.
Im Osten, Leipzig also, begegnet P. ein anderes Buch vom Osten, sogar: vom poetischen Orient. Begegnet? Gelogen, P. und Gramann, wir hatten damit zu tun / durften damit zu tun haben / sagen wir aber nicht zu schüchtern sagen wir: nichts dazutun, nichts fortnehmen / nur ein wenig hinfühlen in die Ordnung der Worte. Der poetische Orient kann auch ein Blog sein. Und nichts nichts nichts! nichts daran ist “poetisch”, nichts “romantisch”, außer der Gattung.
42. Der ewig Unerfahrene / Die Sache, die man Erfahrung nennt, ist das Produkt des Erlebten multipliziert mit Null. Ich war verliebt in die Erfahrung und bin ein ewig Unerfahrener geworden. Mein Erlebtes hat nichts gebracht, außer meine Emotionen zu vervielfältigen. Je mehr Emotionen ich hatte, desto schwächer wurden sie. Die aber, die nicht schwächer wurden, haben sich verwandelt. Dinge, die mich früher berührten, regen mich heute auf. (Emrah Serbes, Fragmente)
Die Gattung heißt: Fragment. Ihr Sitz im Leben ist das Ungenügen am gesellschaftlichen Zustand, an den Zuständen. Daher, ein Wunder, dass es nicht mehr Fragmente gibt in der Literatur der Gegenwart. Erfahrung, übrigens, kommt von fahren.
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Die Brüder Grimm sagen: auch in naturerscheinungen unterscheidet sich die sanfte bewegung von der heftigen: die sonne geht auf und nieder, gât ze sëdel, die sterne gehen am himmel in ihrem kreis, der fallende stern fährt; der wind weht, geht, der sturm fährt; der wind bleset, wo er wil, und du horest sein sausen wol, aber du weist nicht von wannen er kompt und wohin er feret. Joh. 3, 8, wo es ags. heiszt: gâst oreðað þær he vile and þu gehyrst his stefne and þû nâst hvanon he cymð, ne hvider he gæð;
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Die Brüder fuhren nicht nur durch die Sprache, sie gingen auch und sammelten, was sie nur erkannten. Und sie erfuhren, erkannten viel.
P. weiß nicht, woher der Wind kommt, wohin er fährt, und wie P. zurückfährt von Leipzig, mit müden Beinen, o dass P. sie ausstrecken könnte, müden Beinen im dreiviertelvollen nur eben erreichten Zug, endlich auch mit einem Kaffee / Dreimal Milch, bitte / Danke / Danke / Ich habe zu danken / nimmt P. das eine Buch und das andere / P. im Gespräch mit sich selbst: Die Fügungen der Worte sind unendlich.
Die Begegnungen endlich / unendlich schön.
Koordinaten: 51° 20′ N, 12° 22′ O, Elsa Maillart, Der bittere Weg. Mit Annemarie Schwarzenbach unterwegs nach Afghanistan. Lenos Pocket 2003. Emrah Serbes, Fragmente, binooki 2015. Brüder Grimm, Deutsches Wörterbuch.