(8. November) Und abends der Mond, steinerner weißer Ballon am Himmel, gerade nicht mehr voll, riesig nah am Horizont. Dresden: Ankunft am goldblauen Tag, dreh den Blick zur berühmten Silhouette. Wie sah die Stadt aus, vor zwei drei Jahrzehnten! – P. hats vergessen. Schöne Stadt, Literaturstadt, das muss P. jetzt unbedingt sagen, P. war so fremd, drei vier Jahrzehnte, /Umschlag/ fremd geht P. über die Messe, Literaturmesse/ Umschlag/ Umschlag: Brief aus der Gegenwart. Fremd? Ists, wenn du nicht eine kennst. Keine kennst du an der Garderobe, am Eingang, an der Kasse, blöd sagt P.: Ich habe eine Mail, in der steht: Ich werde erwartet. Die Garderobiere lacht. Gehn Sie zur Kasse. Dort steht die Erwartung auf einer Liste, P. wird gefunden, wer gefunden wird, kann so fremd nicht sein. P. tritt ein. Einmal durch die Hallen, Gesichter, Hände, Bücher, jemand schaut her. Kleine Großstädte sind Orte, an denen du gekannt wirst.
Umarmung Gespräch Geschenk. Etwas ist anders geworden über die Jahre: Poliander gern in Sachsen.
Ein Messebesucher fragt P. am Stand, ob es heißt „Ich aß alles außer dem Fleisch“, ob es heißt: „außer das Fleisch“. Eine Schriftstellerin hat das vorgelesen, Dativ, Genitiv, sagt der Mann: alles falsch! Wenn Sie Schriftstellerin sind, müssen Sie das doch wissen, die da habe es nicht gewusst. Sie wird ihre Gründe gehabt haben. Der Mann zweifelt, ist P. Schriftstellerin? Darf P. das sein? P. sagt: „alles, außer Fleisch“, P. wirftn bösen Blick. Der Kritikaster nimmt eine Frau am Arm, seine?, scheint so, er und die schweigende Frau: ab.
An der Ecke jenseits diagonal lächelt der Maulkorb-Herausgeber.
Zurück in der Nacht ist die Silhouette der Stadt unsichtbar, zurück in der Nacht hat die Stadt stille Kleingärten, stumme Straßen, funzliges Licht von Laternen. P.s Begleiterin: Ich weiß nicht, ob ich richtig gefahren bin, der Brücke wegen. Begleiterin kann sie nicht heißen, denn P. ist die Begleiterin, weniger: die Mitgenommene, Hingebrachte, die, der hier was zur Liebe getan wird. Frühlingsmorgenlicht ginkelt im Wageninneren. Dresden ist eine Stadt mit einem richtigen Fluss. (Nicht wie die Spree, Sie wissen, was ich meine.) Wer gebracht wird, ist doch nicht fremd! Der Mond, sagt die Bringerin: Setz dich im Bus auf die rechte Seite, da siehst du den Mond. Ja, sagt P. vorm Bahnhof, hier der Bus, zehn Minuten, Automatenkaffee im Stehn, überrascht: schmeckt wie in Frankreich, das ist: weil wir nicht fremd sind.
Hinten im Bus: Jetzt ist Nacht Nacht. Vor P. ein Schweigen mit Laptop, amerikanische Serien ohne Ton, Männer wie ausm Anorak-Katalog zeigen die Zähne. Schräg vor P. eine Frau in propagandarotem Kostüm spricht hochdeutsch mit einem Mann, der die Jacke nicht ablegt. Hinter P. eine Sprache, die P. für arabisch hält, links wird polnisch, deutsch und noch etwas gesprochen, das P. nicht erkennen kann. Schönes Fremdsein, Unsichtbarsein, Musik hören, die dich nichts angeht, dennoch mehr ist als Geräusch. Der Mond hängt über dem Elbtal Richtung Meißen, der Mond über Polen /Bobrowski-Erinnerung/.
P. berührt den Vorhang, P. fängt einen Blick. Bitte, ziehen Sie den Vorgang nicht ganz zu. Ich möchte den Mond sehen: Lächeln, P. sprachunkundig, aber verstanden. In der Dunkelheit des Businneren leuchtet die Reihe Lämpchen, draußen glüht kalt der Mondballon. Weit weg, wieder so nah. Hinter P. „Titanic“, sagt der Mann, Ist es in Ordnung?, fragt der Mann, P. lächelt, P. nickt, P. dachte, Titanic sei ein Schiff gewesen. Hinter P. türkischer Pop, P. zieht das Bein heran, der Mond schwankt aus dem Blickfeld, dann wieder ins Bild, der Mond ist beweglich, über den Mond laufen drei Zeilen Punkte, Struktur, die auf das Busfenster geprägt ist, hinter P. Bob Marley Dont worry be happy, hinter P. No woman no cry, hinter P. nicht Identifizierbares aus Kopfhörern. Die Kulisse aus Geräuschen ist ein Vorhang, der das Fenster nicht verdeckt.
Stunden lang. Vor uns gelegentlich rote Lichter, auf der Gegenfahrbahn die Lichtmauer der fahrenden Autos.
Vor Schönefeld wachen zwei Jungen auf, eine Frau, reden plötzlich, Wortfetzen deutsch und englisch hört P., über Tänzerkarrieren und wie man sie anpackt. Schönefeld: schlagartig Stadt, sofort Berlin. Die vornehm Gekleideten wuchten Koffer Richtung Flughafen, die Anzeige weist den nächsten Flug aus morgens um sechs, P. noch die Gedanken im Mond, der Bus eilt nun Richtung Südkreuz, in tausend Lichtern uner/verkennbar die gemeinte Linie der gewesenen Mauer, nur einmal: da, die Ballons, dann wieder das gelbe, das weiße Licht, die unzähligen Lichter der Stadt, der Mond höher jetzt und blass.
P. kann nicht erwarten, auf dem Balkon zu stehen und mit dem Mond zu trinken. P. kann kaum erwarten, die eignen Füße zu brauchen, P. stellt den geschenkten Torso der Venus auf die zerkratzte Marmortischplatte in der Küche, P. zieht die Zeitschriften aus dem Rucksack und „Der süße Brei“, gezeichnet nach den Brüdern Grimm, und ein Schwein läuft Schlittschuh. Es ist Nacht Nacht, P. trinkt dem Mond zu, nur ein paar Stunden noch, dann: P. im ersten Licht, bettwarm verschlafen, läuft in der einzigen Sonnenstunde durch die nebelfeuchten Parks, o November, o das branstige Gelb der Lärchen.
Koordinaten: nie national.