Polianders Zeitreisen

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Faltungen

18.10.2014 · poliander

In unseren Augen war er eine Legende, der Beweis, dass es möglich ist, sich nicht zu verbiegen, nicht zu brechen, sich nicht brechen zu lassen. Er hat einfach weitergearbeitet.

Berlin, Herbst 2014, goldener Tag. Die Villa Grisebach stellt Arbeiten von Hermann Glöckner aus, der 1889 geboren wurde und seine Arbeit in der Kaiserzeit begann. Es sind Porträts dabei, Landschaften. Auf einem der Porträts stehen zwei Türme neben dem Gesicht einer Frau, die sich im Wasser spiegeln, geometrisch, nicht naturalistisch. Hermann Glöckner entwickelte die Abstraktion aus dem Gegenstand. (Heute gewinnt man manchmal den Eindruck, die Leute haben vergessen, dass es so gemacht wird.) Um uns gehen Leute, die Bilder suchen, um sie zu kaufen, wir geraten in einen leichten Taumel. Manchmal kleinformatig, niemals klein. Glöckner war der, der aus einer Sächsischen Zeitung mit einem Strich ein Werk machen konnte. Glöckner ist der, dessen Alphabet und einmaleins aus Farbflächen und Körpern im Raum, transponiert in die Fläche und Flächen, übersetzt in den Raum, besteht. Glöckner ist der, dessen Stiftschwünge einem Blatt Papier die perfekte Teilung geben. Glöckner ist der, der das Papier wirklich gefaltet hat, der aus Streichholzschachteln machen konnte, was andere mit Bronze nicht können. Er hat einfach nicht aufgehört zu arbeiten. Entrückung der Betrachterin, mathematische Verträumtheit des Betrachters. Hier zählt die Arbeit und dass ihn keiner klein kriegte. Glöckner überstand nicht nur den NS, in dem die Kunst ganz offiziell als “entartet” vom Kitschhandwerk getrennt und letzteres in den Rang der Kunst erhoben wurde. Glöckner überstand die 50er Jahre und die “Formalismus”-Debatte. Kaiserzeit, Weimarer Republik, NS, DDR. Er lebte von “Kunst am Bau” und malte und faltete und brach nicht und stellte Grafik in den Raum. Als P. und ich in Erfurt studierten und gelegentlich zu den Großen Ausstellungen fuhren, war Glöckner eine Gerücht, ein Gerede, eine Legende und dann kam jene Ausstellung, in der wir seine Arbeit sahen. Andere Bilder haben wir vergessen, nicht aber die. Sie waren Kristalle. Da kann man auch mal ich sagen. Ich vergesse das nicht. Glöckner erforschte die Fläche und den Raum, und dann überwand er auch die Zeit. Kein Bild hier, das ist eine Wort-Erinnerung.

Gehen Sie hin, ehe die Bilder in privaten Sammlungen verschwinden. Gehen Sie vor dem 1. November 2014.

Koordinaten: Keine Abbildung, sondern sehen Sie hier: Das Werk. Dresden 1889-1987, 51° 3′ N, 13° 44′ O. Nachlass. Villa Grisebach in Berlin, Fasanenstr. 25.

Augenweide
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