Der alte Mann sagt: mein Engel, wie du willst,/ wenn du nur den offenen Abend stillst/ und an meinem Arm eine Weile gehst
Ingeborg Bachmann, Die blaue Stunde
Rückkehr nach Karlsruhe: Die blaue Stunde in der kleinen stolzen Stadt findet in der Insel statt, im Hintergrund der winzigen, mit Instrumenten vollgestellten Bühne, auf der sich die Musiker_innen in Geister-, Geistesschnelle zurechtfinden, leuchtet es synthetisch coelinblau. Hier ist zu hören, für Poliander und den Gefährten, „L’heure bleu“ von Hans Werner Henze, harmloses Wort, „Serenade“, und dann die lange Passage, die kurze Passage, die Musik geht hindurch, passiert uns, etwas passiert, P. lauscht neben sich oder außer sich- Oboe d’amore. O. Das Horn, die Tube, die Viola von ihrer Spielerin üppig gespielt mit dem roten Lächeln der Konzentration. Dann Beifall. Henze, der mit Bachmann lebte für eine Zeit, starb vor einem Jahr. Die Passage durch seine Musik führt jeden Gedanken zurück, zurück in ein Damals, in dem Polianders Zimmer. Heruntergekommene Wohnung im heruntergekommenen Friedrichshain, dem einzigen – damals, nicht heute natürlich! – alleinigen ganz und gar noch proletarischen Bezirk Ostberlins, jedenfalls in jener Gegend zwischen Warschauer Straße, Ostkreuz und Samariterstraße, Samaria, wie wir sagten. Der Vorzug der Gegend: Keiner sorgte sich um dich (außer vielleicht der aufmerksame Mann in der Wohnung gegenüber, der manchmal besoffen übern Hof brüllte, aber auch wusste, welche Post im Kasten war, dessen Sorge war keine Für-Sorge), also keiner kümmerte sich, jeder machte sein Ding, seine Arbeit, fiel dann in die Kneipe, Bier natürlich,und den ganzen Sommer stand das Fenster offen überm Schreib- und Weinglastisch, Rotwein natürlich, so dass die Zimmerpflanze ins Freie rankte und erst im Herbst wieder eingefangen wurde, unter Verlust ihrer Strähnen. Im Zimmer also: Henze, Die Musen Siziliens. Sterblicher Kummer. P. begann zu schreiben.
Der junge Mann fragt: und wirst du auch immer?/ Schwör’s bei den Schatten in meinem Zimmer,/ und ist der Lindenspruch dunkel und wahr
Ingeborg Bachmann, Die blaue Stunde
Die blaue Stunde, mehr Musik, Musik von Schülern Henzes, er sei ein begnadeter Lehrer gewesen, der mehr als Noten lehrte, sagt Jan Müller-Wieland, „Narrativo e sonnambulo“ (2001) sein Stück an diesem 8. November in Karlsruhe. Also Henze nämlich sagte, zum 200 Jahrestag der Revolution, 1989 (ja nicht die, an die Sie jetzt denken!) möge jeder Schüler ein Stück schreiben, jeder was er will, nur nicht Wieland, der habe zu schreiben über: die „Köpfe der Jakobiner“, das, sagt Müller-Wieland – er habe ja keine Ahnung gehabt, worum es sich handle dabei, habe es nachlesen müssen – das lehrte ihn mehr als Noten: „Das war die Sprengung meines Bewusstseins“. Es war das Jahr, sagt Poliander, in dem kein Stein auf dem andern blieb, so wie ein andres, und das ist nicht vorbei, lange nicht, und Verstehen ist doch nicht das Kriterium, hören Sie, wenn jene Klarinette spielt und viel schönes Schlagen des Schlagzeugs, und, sagt nachher P. zum Gefährten, das ist das Schönste, was P. bislang in der Insel je hörte, „und du“, fragt P., „und du?“
ihr Herren, gebt mir das Schwert in die Hand,/ und Jeanne d’Arc rettet das Vaterland./ Leute wir bringen das Schiff durch’s Eis,/ ich halte den Kurs, den keiner mehr weiß.
Ingeborg Bachmann, Die blaue Stunde
Koordinaten: 49° 0′ 34“ N, 8° 24′ 15“ O, Nächtklänge, Hans Werner Henze, Die blaue Stunde (Text und Hörprobe von Bachmann herself), Ulrike Gramanns Bericht über die Reihe „Nachtklänge“