Polianders Zeitreisen

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Kleine Straße neben der Autobahn

13.12.2012 · poliander

P. ging durch die kleine Straße gleich neben der Stadtautobahn, kam ein unrasierter Mann entgegen. Lachte, streckte P. die Hand hin, P. fasste zu und grüßte freundlich. Der Mann versprach sich mehr. Um ehrlich zu sein, er sah nicht sonderlich frisch aus. P. zischte ihn an, er verschwand in einem der Eingänge. Im Haus daneben gibt es ein Bordell, jetzt im Winter schaukelt ein künstlicher Weihnachtskranz am Fenster, Lichter blinken: an – aus – an – aus. Immer so weiter.

Südlicher in der kleinen Straße gab es ein Geschäft für Musik-CDs, betrieben von zwei älteren Herren, die Ahnung von Opern hatten. Es gab im Grunde nur Opernmusik da, bisschen Klassik, bisschen Barock, keine Moderne, keine Weltmusik, und im Herbst verkauften sie auch Darjeeling-Tee. P. kaufte selten was. P. hört eben noch die alten Platten, nicht weil der Plattenspieler beseelter wäre, aber Platten wollen eben weiter gehört werden, und sie haben etwas von P.s Seele angenommen, mit der Zeit, ja von dem bisschen Seele, das eine zeitreisende Person so bei sich trägt. Da dreht noch Czesław Niemen auf dem Plattenteller und Ombra mai fu.

Während die Autos fünf Meter über der Straße dahinrauschten, ging P. nur selten in das Lädchen mit Ton und Art, nicht oft in den Trödelladen und nie zu “Gerda und Richard”. Eines Tages waren Gerda und Richard dann weg, wer weiß, weil sie einfach keine Lust mehr hatten oder zu alt waren oder womöglich selbst ihre besten Kunden gewesen. Eine Ecke weiter nördlich wurde ein Röntgen- und Radioaktivitäts-Center eröffnet. Die Kneipe stand leer, dann wurde sie wieder eröffnet, hieß nun “Viertel”. Doch dieser Name leuchtete den trinkfreudigen Berlinern nicht ein. Hier heißt das Kiez; auch auf die Idee, Getränke im Viertelliter anzubieten, kommt kein Berliner Kneipier, der Ahnung hat. “Viertel” hielt kaum ein Vierteljahr, zumal gleich neben der Radioaktivität jeden Abend ein anderer Schnaps fürn Euro zu haben war. Eines Tages bat P. im Opernladen um Bestellung einer CD, es war keine Oper, um genau zu sein, und der Händler verwies auf den Discounter vorn an der großen Straße, wo die Metrobusse fahren. “Da kauft ihr doch sonst auch!” P. verstand den Zorn des Alten, obwohl der Vorwurf ins Leere traf. P. besorgte sich die CD anderswo. Rosebuds in a Stoneyard. Die Stimme der Sängerin durchglüht das dunkelrote Universum, das sich über der Stadt erstreckt.

Poliander kommt oft hier entlang. Da ist die Post, dort der Marktplatz, ein Ort voll Erinnerungen, Obst und warmen Socken. In einem Ecklädchen der kleinen Straße gab es eine Zeitlang Gemüse, Granatäpfel und Mispeln. Die Kneipe von Gerda und Richard heißt nun “Pub”, “Pub” hält sich. Das Gemüselädchen ist einem Bäcker gewichen. Plötzlich im Sommer stand der Opernladen leer. Dann kam dort: nichts. Das Bordell ein paar Häuser weiter wurde renoviert, der Hinweis “Neue Öffnungszeiten” erschien auf der beige gestrichenen Tür. Der Opernladen blieb leer. Zeit verging. P. ging zum Markt. In diesem Winter scheint der Bedarf an Socken besonders groß zu sein, die Strumpfstände sind wieder mehr geworden. Die Straße ist dick vereist, auch das Weihnachtstauwetter wird die Füße kühlen. Der ehemalige Opernladen ist wieder geöffnet: “Enthaarungen – Beine, Achseln, Intim” steht auf dem ausklappbaren Aufsteller direkt an der Straße. Oben auf der Autobahn rauscht der Verkehr.

Koordinaten: 52° 28′ 0” N, 13° 20′ 0” O

Reisebrief
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