Polianders Zeitreisen

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Reisebedarf (Lesen 2)

18.09.2012 · poliander

Westhafen, oben

Westhafen, oben

Die Berliner Bahnhöfe, U- wie S-, erleben einen verteufelten Wandel: Je länger die Zeit verstreicht, je mehr Zeitungskioske werden geschlossen, Esskioske an deren Stelle eröffnet. Ja sogar wo nie ein Zeitungskiosk stand, werden nun, teils provisorisch in blaue Lastwagenplane geschlagene, Theken aufgestellt, hinter denen sommers wie winters frierende junge Frauen Brötchen, Streuselschnecken und Coffee to go anbieten. Des ungeachtet sieht Poliander in den U- und S-Bahnen weit mehr Menschen lesen als essen. Wer verzehrt all die Brötchen und Kuchen? Woher haben die Lesenden den Stoff? Und warum werden ständig neue Brötchenläden eröffnet, wenn doch die Menschen, wir nehmen es dankbar zur Kenntnis, im öffentlichen Nahverkehr noch immer lieber lesen als ihre Sitz- und Stehnachbarn mit Flüssigkeiten aus dem Becher zu beschwappen? Mystère! Nun hat das Spiel auch unseren Lieblingsbahnhof erreicht, den S- und U-Bahnhof Westhafen. Der untere, mithin U-Bahnsteig trägt auf den Wänden die Erklärung der Menschenrechte, dergestalt, dass die Schrift ohne Punkt, Komma und Umlaute den Text ganz fließend wiedergibt. Züge um Züge der in kurzer Folge fahrenden U 9 könnte man fahren lassen, um in den Zugpausen die Erklärung ganz zu buchstabieren, so als hätte man sie noch nie gelesen. Oh, wer hat auch nur die eigentlichen Artikel, ohne Präambel und Drumrum je von Beginn  bis Schluss und im Ganzen gelesen? Während Poliander dies tut, nicht alles auf einmal, sondern mal um mal einen weiteren Artikel, sieht P. nie eine Person am neuen Kiosk eines der ausgelegten Wurst- und Käsebrötchen erwerben. Gleichwohl existiert der Stand seit Monaten! Wovon? Morgens, wenn Berufsschüler und Angestellte hier umsteigen, stecken die meisten ihre Nasen ins Buch, männliche Jugendliche lesen erstaunlich oft Fantasy, weibliche Krimis, wussten Sie das? Fahren Sie U-Bahn, Sie werden staunen!  Andere schieben das Gesicht in den aufgestellten

Westhafen, unten

Westhafen, unten

Kragen. Sie streben eilig hinauf zum S-Bahnsteig oder von dort herunter, in der großartigen Akustik des Durchgangs umwallt von Ziehharmonikaklang. Ohne Musik ist der Bahnhof selten, und wunderbarerweise treten in Westhafen meist wahre Könner und Könnerinnen ihres Genres auf, der Straßen- und Verkehrsmittelmusik. Greifen Sie ruhig in die Hosentasche, wo die kleinen Münzen ruhen!

Oben auf dem S-Bahnsteig steht schon lange ein wackliges Büdchen, wo neben den üblichen Brötchen auch Bratwurst und türkisches Gebäck verkauft wird, vor allem aber heißer Kaffee. Hier oben, beschattet von einer breiten Brücke und umweht von scharfem Luftzug, man steht quasi an offener Strecke, hat wenigstens das Heißgetränk das Ziel seiner Bestimmung erreicht. Denn in den langen Minuten, zuweilen Stunden, in denen die Ansage verkündet, die S-Bahn um 9:17 Uhr sei zehn, bald 20, 25 Minuten verspätet, und zuletzt fällt sie aus!, in dieser Zeit also wird es der Hitzigsten kalt und dem Wärmsten frostig. Hier ist es zum Zeitunglesen tatsächlich zu zugig, und wer die Hände nicht um einen Pappbecher mit kochendheißem Inhalt schließt, vergräbt sie in den Hosentaschen.

Auf dem Wänden des Übergangs aber zwischen den beiden Bahnsteigen findet sich, in der gleichen Versalschrift, die wir schon vom unteren Bahnsteig kennen, eine Passage aus Heinrich Heines Memoiren. Als Poliander neulich, wieder einmal vergnatzt, dass es hier keinen Zeitungsladen gibt!, mürrisch zum oberen Bahnsteig stapfte, kam ein Mädchen entgegen, in der Hand eine Kaffeepappe to go, unterm Arm ein riesiges belegtes Baguette, und sie studierte in Seelenruhe den Text:

Hier in Frankreich ist mir gleich nach meiner Ankunft in Paris mein deutscher Name „Heinrich“ in „Henri“ übersetzt worden, und ich mußte mich darin schicken und auch endlich hierzulande selbst so nennen, da das Wort Heinrich dem französischen Ohr nicht zusagte und überhaupt die Franzosen sich alle Dinge in der Welt recht bequem machen. Auch den Namen „Henri Heine“ haben sie nie recht aussprechen können, und bei den meisten heiße ich Mr. Enri Enn; von vielen wird dieses in ein Enrienne zusammengezogen, und einige nannten mich Mr. Un rien.

Und Poliander dachte, wie gut doch diese Geschichte vom Fremdsein an diesen zugigen Ort passt, wo niemand länger verweilt als nötig, und oben das weite, teils öde, teils geschäftig belebte Gelände (in Berlin wird ja immer gebaut), die Hafenanlagen und Binnenschifferkirche, und selbst die Bankfiliale gehört der Bank für Schiffahrt, wussten Sie, dass es so was gibt? Steigen Sie aus! Etwas zu sehen finden Sie überall.

Koordinaten: Bahnhof Westhafen, INSCRIRE to write the human rights, der Dichter im Gutenberg-Projekt, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Schönste Stellen
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