Liebe Freundin,
spät kam sie ins Mittelalter, die persönliche Sicht, aber wenn auch du mit ihren eben erwachten Augen schauen willst, fahre nach Strasbourg.
Den Bahnhof verdeckt ein Wulst aus Glas, wir drehten uns noch einmal um, dahinter die historische Fassade, ja, ich mochte das. Sah aus, als käm der Bahnhof hinter einer Anhöhe hoch. Dann gingen wir in die Stadt, und weil Poliander den Hut vergessen hatte, verbrannte P.s Gesicht im strahlenden Licht, das über der Ebene lag, in nullkommanix, und der Tag war noch lang. Am Münster sammelten sich, es war neun Uhr morgens, Schulklassen und Reisegruppen um die hochgereckten Arme der AuskennerInnen. Das Museum öffnet um zehn, wir vertrieben uns die Zeit mit Kaffee und Briochettes, Zigarettenrauch zog vorbei, der Himmel war blau wie selten.
Im Museum war es dunkel, und wir wussten nicht gleich, was nun zur Ausstellung gehörte, was immer da war, die winzigen, von Säulchen geteilten Fensterchen, fenêtre. Wer hatte das Wort gestrichen und baie darübergeschrieben. Nun, sie gingen nicht nach draußen. Und im tiefsten Dunkel lagen die Kapitelle kleiner Säulengruppen, die mit Lämmern verziert waren und anderen Tieren. Ein Gang, ein Türsturz, über dem ein Gesicht uns anschaute, streng, geteilt, symmetrisch. Plötzlich ein Raum mit Einzelfiguren aus dem Münster, ein Laurentius, Lorenz, Laurent, der seinen Bratrost streng ans linke Bein gepresst hielt, ein Bär, dem Teile des Gesichts fehlten, nicht aber das Bärbuckelchen unterm langen Nacken und der Körperschwung, der den Bildhauer verrriet: er muss Bären gekannt haben.
Niclas Gerhaert, dem manches zugeschrieben wird, vom dem nur fünf Werke sicher sind, kam im späten Mittelalter aus den Niederlanden, das war um die Mitte des 15. Jahrhunderts, und arbeitete in Strassburg und Wien. Figuren über Figuren, lebensähnlich, ohne doch realistisch zu sein. Jesus auf Marias Arm greift nach dem Stifter, berührt mit seiner kleinen Hand die ihm entgegengestreckte Hand des Bischofs, dessen Gesicht jenseitiges Entzücken spiegelt. Nicht dass wir wüssten, was für ein Mann er war, vorausschauend, soviel steht fest, gab er doch zu Lebzeiten sein Grabmal in Auftrag, auf dass er selbst die Verbindung der steinernen Hände noch zu sehen bekäme und jenes Lächeln, das er auf seinem Bilde sähe, auch ins lebendige Gesicht. Versteckt, liebe Freundin, schräg hinter dem Grabmal des Bischofs, findest du Abraham und Isaak, der schon über das Knie des Vaters gelegt, der den Jungen opfern soll. Abraham schaut aus dem Bildwerk mit irrem Lächeln, so jedenfalls deuteten wir den Blick, da wir ihn nicht für einen ergebenen halten wollten. Unter Vater und Sohn schon das Schaf, das sterben soll, auch das Tier hat die Maulwinkel lächelnd verzogen. Poliander legte die Stirn in Falten, auch P. wollte wissen, was die Früheren dachten, als sie dies sahen. Dann jener Prophet, dessen steinerner Kopf feine Barthaare und Augenfalten zeigt, wir wussten gleich, wem der ähnlich sieht, obwohl der Ähnliche bartlos ist. Und zuletzt, nach all den Heiligen, eine Anna mit der lesenden Maria auf dem Arm, Lieblingsbild aller, die wissen, dass Göttinnen immer von feiner Bildung sind, ja, so gemeint und so auch, was dachtest du?
Liebe Freundin, wir sind nicht neutral. In tiefer Voreingenommenheit für die Bildwerke raten wir, begib dich hin und sieh selbst. Vergiss nicht den Hut, herzlich
Poliander und GefährtInnen
Koordinaten: 48° 35′ 04” N, 7° 44′ 55” O, Musée de’l Oeuvre Notre-Dame, direkt am Fuß des Münsters, 3 place du Château, Strasbourg, Ausstellung noch bis zum 8. Juli 2012
Film anschauen: Ausstellungsfilm des Liebighauses Frankfurt am Main, das die Objekte ebenfalls zeigte