(Nachtrag am 8. Oktober 2012: Sie muss heilig sein, oder wie sonst ist ihr Wort endlich auch ans Ohr der verstockten Herren gedrungen? Oder ist es nur, dass eine heilige Lehrerin im Mittelalter den Herrn bequemer ist als ein paar quickgegenwärtige Frauen, die die verstaubte Institution durchwirbeln. Ah, wenn sie wiederkäme, geritten und gefahren, wie sie den Herren die Leviten läse!)
Die Schritte der Heiligen
… machen kein Geräusch. Und unter den noch kahlen Bäumen ist es still und auf den mit Erde gefüllten Stufen, zu deren Halt paar dicke Äste genügen für die Schritte der Lebenden, von denen nur wenige hier herumgeistern, genau genommen zwei, P. und Begleitung. Später im herzförmigen Labyrinth, wo die Frauenklause gewesen sein soll, entdecken sie noch eine, genau, Frau, die hat einen langen Anorak an und singt vor sich hin, während sie das Herz abläuft. An diesen Ort auf einem Berg, genannt nach dem irischen Disibod, kam die junge Hildegard, die 1098 Geborene, im Jahr 1112 mit ihrer Jutta, ihrer Lehrerin, geistlichen Mutter. Hildegard blieb lange hier, 38 Jahre, dann zog sie weiter mit ihren Nonnen und Freundinnen, zum Rupertsberg, auch nicht so weit weg von dieser Gegend am Disibodenberg, in der Glan und Nahe zusammenfließen. Ihren Hauch atmet noch immer der Wald um die Ruine des Klosters, Fundamente und Gemäuer aus Jahrhunderten vor und nach Hildegard. Manche Leute halten die heilige Hildegard für die Erfinderin des Dinkelbreis, darüber kann Poliander ganz schön gnatzig werden. Denn die Dichterin und Komponistin, Ärztin und Äbtissin, die gelehrte Frau war eine machtvolle Person, nicht bloß wortmächtig, obwohl auch das nicht wenig wäre, sagt P., genaugenommen: mehr als das meiste sonst.
Es ist still hier, weil es später Nachmittag ist oder früher abend, früh im Jahr, im März, es geht frische Luft hier oben, und die Sonne drüben hinter den Bäumen an der Frauenklause ist schon dunkelrot, nur die Vögel sind zu hören, beinahe, und manchmal surrt es leise in P.s Fotoapparat. Da haben wir schon die Geräusche abgestellt, so weit es geht, aber in der Dämmerung muss man ziemlich fummeln, um das Schneeglöckchenfeld noch draufzukriegen, ja. Am Berg, als wir hinaufkamen, weideten Schafe und ihre Lämmer, uns Städtischen mehr Augenweide als die Bauwerksüberreste hier oben. Gut, beinahe. Das Gelände ist weitläufig, und was in gut erhaltenen Kirchen beinahe nie ins Auge fällt, sieht man hier genau, die Mühe von Tausenden Handgriffen, mit denen Stein auf Stein gesetzt wurde, um ein paar Handvoll Menschen und ihren Gästen und Schutzbefohlenen Raum zu geben. Poliander guckt ins Hospiz, einen nach oben offenen Innenraum, der einst zwei Stockwerke und ein Dachgeschoss hatte. Nun bedeckt den Raum nur noch der Himmel. Aber was heißt „nur noch“! Der Himmel bedeckt das Kloster. Hinter P. raschelt es. Doch im trockenen Laub ist nichts zu sehen, nur ein Blatt zittert. Durch das Hospiz schweift der Blick nach oben, in den sich verdunkelnden Himmel. P. mag nicht eintreten. Wieder das Rascheln, niemand zu sehen.
Licht, das Hildegard sah, und Musik, die sie hörte: Visionen zu haben, war gefährlich, als Frau zumal. Ob Lob oder Lästerung wurde nicht demokratisch entschieden, von Männern sowieso. P. mag den Gedanken der Inferiorität mittelalterlicher Frauen trotzdem nicht sonderlich. (Guckt euch doch mal das Biedermeier an, Frauen!) Das Leben im Orden bedeutete Gelehrsamkeit und ihre Anwendung im Heilen von Kranken, in der Komposition, im Denken und Niederschrieben des Gedachten. Die Steine, wird gesagt, schweigen. Steine gibt es viele hier, sie liegen auch einfach in Haufen herum, überwuchert von dickwurzligem Efeu. Unten am Weg haben die Leute von der Stiftung Tafeln aufgestellt, kluge Sätze aus dem Zusammenhang genommen, P. schaut hin, der Gefährte liest sie ganz genau, P. guckt lieber wieder in die Gegend. Eine Frau mit Hund kommt den Berg herauf, hinten am Berg, wo auch der Wein wächst. Jetzt, im März, sind es kurze, kahle Arme, die Fäuste und Ellenbogen aus dem Boden recken, gehalten von Stützen und Drähten.
Später will das Auto nicht anspringen, und weil es P. und dem Gefährten an technischer Gelehrsamkeit mangelt, wird lange telefoniert. Es wird dunkel, kalt, ein paar Mücken kommen. Es ist Nacht, als sie abfahren. Disibodenberg mit Schafen und Ruinen, da kann man mal hinfahren.
Koordinaten: 49° 46′ 40“ N, 7° 42′ 15“ O, Columba aspexit (hören), Disibodenberg. Um den Ruinenpark zu besuchen, passiert man ein Drehkreuz, Eintritt 3 Euro (Automat). Momentan ruhen offenbar die Arbeiten und Einrichtungen der Stiftung Scivias.