Polianders Zeitreisen

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Paris im November

08.11.2010 · poliander

Grab 1 Cimetière Montparnasse

Paar am Haupteingang Cimetière Montparnasse

Da hin!, sagt Poliander, Dort hin!, ruft Begleiterin 1. Die Sonne steht herbsthalbhoch überm Grab von Sartre und Beauvoir, ich lehne mich an den Rücken der Bank davor, sitzen könnte man nur mit dem Rücken zu ihnen, ich betrachte die frischen Küsse auf dem Stein. Da war doch schon jeder. Poliander nicht, sagt Poliander. Unterhalb vom Friedhof Montparnasse schwimmen wir durch die Welle Jugendliche vorm Lycee. Begleiterin 2 stellt fest: die gleichen Frisuren wie in Frankfurt. Hier, sagen beide, vertragen wir schon mittags Wein. Poliander knirscht mit den Zähnen, betrunkene Frauen am Nachmittag? Sei doch ruhig, wir fahren mit dir zu all den Orten. Aber dann regnet es, wir gehen mit P. zum Centre Pompidou. P. knirscht wieder, dabei ist der Blick von der obersten transparenten Röhre ganz so gut wie der Blick vom Montmartre.  Das sagt ihr!, sagt Poliander. Ich gebe P. eine Handvoll Blicke über die Stadt,  Zinkdächer schimmern im Regen.  Ich schleppe alle zu Nancy Spero, vor einem Jahr starb sie in Manhattan, ein Video zeigt, wie sie noch einmal singen, Happy birthday dear Nancy!, und die magere Frau mit den zerzausten Haaren lacht schütter. Ich entwische nach nebenan, Pipilotti Rists Blutclip dreht, dreht, dreht und dreht, ich strande vor einem zottigen Objekt aus braunschwarzer Wolle, es hängt von der Decke, der Blick geht in die gefährliche schwarze Höhlung, schön hier, sag ich.

Am Abend ziehen wir über den Place de la Republique, P., die Begleiterinnen, die Freundin, die Freundin der Freundin und so weiter, auf uns wartet ein Tisch in einem Restaurant in einer Nebenstraße. Unter der Republique dicht in Dreierreihen stehen Leute im Regen, ohne Schirm, schäbiges Gepäck. Fünf Meter vor ihnen: Tische mit Essenscontainern, das Aluminium glänzt im Scheinwerferlicht, Pappkartons daneben, Obst, Leute sind viele, Orangen wenige. Immerhin in der Stadt, sagt Poliander. (In B. sind die Armen auch sichtbar, du musst nur hinschaun, sage ich.) Die Freundin der Freundin berichtet: Alle Demonstrationen wären nun so, dass man den Anfang nicht sieht und nicht das Ende, und jedes Problem führt auf das eine zurück: die Regierung. Die Wut wächst noch. Wir gehen weiter,  Leckereien entgegen, dreimal füllt man uns die Karaffe neu, Rotwein, Was dachten Sie denn! Auf dem Rückweg: die Armen sind fort, die Republique  zeigt uns den Rücken, Stein wallt. Wer ist das noch mal, dort, die Figur? Die Republique! Ein Kulturzentrum, Jugendliche sitzen auf dem Boden, Leute mit Instrumenten in riesigen Hüllen gehen an uns vorbei, es ist schön hier, kein Zweifel. Anderntags im Marais, nun ist Sonntag, eiskalter Regen, wir rennen von Lokaltür zu Lokaltür, wir staunen die Häuser an, wir landen im Trocknen, wir ziehen im Laden rosarote Stiefel über die Füße, Ah!, wenn das die Daheimgebliebnen wüssten, zum Dejeuner haben wir Rosé getrunken. Wasser strudelt von den Dächer in die Straßen, die Feuerwehr sperrt den Autoverkehr, Arbeiter kehren den Regen in die Tiefen der Kanalisation. Plötzlich Sonne, durch das Licht stäubt feiner Niesel. In der Rue des Rosiers verkünden die Tiger Nature’s Revenge. Am Hotel Rohan-Soubise nehmen wir ein Flugblatt entgegen: “Maison de l’Histoire de France, pas aux Archives”, im Nationalarchiv kein Haus der Geschichte! Die Männer erklären es geduldig, gestreikt wurde auch schon. Das Archiv soll hier, mitten in der Stadt und gut zugänglich bleiben. “Unterschreiben Sie unsere Petition!”,  ruft der Mann der Gewerkschaft. Für ein “ideologisches Projekt” die kostbaren Akten auslagern, so dass sie weniger zugänglich sind? O nein! Historiker wollen nicht staatstragend “die Seele Frankreichs stärken”. (Später im Netz der Bericht von arte.) Könnten wir bleiben, mehr erfahren. Pflichtbewusste Füße eilen zur Metro.  Schnell zum Bahnhof, schnell zu Relay, ans Regal mit der herrlichen Aufschrift: “Bande dessinée”. Nein, nicht in den Rucksack, wir lesen sie gleich! Da fährt schon der Zug. Poliander sagt: Ich möchte bleiben.

Koordinaten: 48° 50′ 25” N, 2° 19′ 9” O

Reisebrief
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