Polianders Zeitreisen

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Netze auswerfen, was von früher drin finden

09.02.2010 · poliander

Alle suchen im Netz: Kindheitsfreunde, Bewerberinnen, neue Geliebte, alte Feinde. Finden, was hilft. Polianders Freundin ist keine irre Sucherin. Menschen findest du, sagt sie, doch überall. Poliander will wissen, ob sie auch überall findet, was vormals über die Zeit half, über den Kummer, der im Kinderzimmer saß, eingeklemmt zwischen Bett und Schrank, Arm in Arm mit der langen Weile. Nein, sagt Polianders Freundin, hier, greift ins Regal, zwischen die Bibel und das Buch von den frommen Bürgern zu Erfurt, greift ein handliches Büchlein, früher hatte es eine glänzende Hülle mit einem gemalten Blumenkranz. Die ist weg. Der grau-fleischfarbene Leineneinband der Holzlandsagen blieb zurück, verfärbt, fleckig, auf dem verstockt braunen Vorsatzpapier steht, schwungvoll geschrieben, noch der Preis: 6,30, viel für so ein schmales Bändchen im Jahr 1968. Das Papier ist was besser als das der alten Hefte Reclamleipzig. Es ist dick, mürbe und hält. Die Fadenheftung zeigt Fadenschein. Auslieferung Max Kessler Jena, für den Kulturbund Gera.

Polianders Freundin war sieben, als das Buch erschien, in fünfter Auflage, in den Haushalt muss es später gekommen sein, als sie die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm schon in- und auswendig kannte. Die Geschichten waren glaubhaft, denn zum Beispiel kannte Polianders Freundin den Eichbaum an der Straße nach Eisenberg. „Tiefste Waldesstille ringsum!“ Ab und zu kam der Bus. Das konnte der Erzähler naturgemäß nicht wissen, der die Sage in den 1860er Jahren aufschrieb. „Das ist die uralte Jakobseiche.“ Polianders Freundin schätzte den Baum auf 60 Jahre. Das war einfach logisch, denn die Jakobseiche, stand in den Holzlandsagen, wurde am 19. März 1910 gefällt und bald danach durch eine junge ersetzt. Und die Wege des Waldes bildeten hier, denn Polianders Freundin wusste genau, wo es war, einen Kreuzweg mit der Straße. „Den nächtlichen Wanderer äfft in der Nähe der Jakobseiche oft trügerischer Spuk.“ In den Zweigen des Baumes flattert nämlich die Wäsche, die die Geister des Waldes zum Trocknen aufgehängt haben. Wehe dem, der eines der Stücke an sich nimmt! Nicht nur, dass der Karren immer schwerer wird, auf dem der Sack mit der Wäsche liegt, am Ende springt ein Männlein heraus und auf die Ofenbank, sitzt fest, nicht einmal der Pfarrer vermag es mit heiligen Sprüchen zu vertreiben. Erst der Scharfrichter aus Zeitz weiß die rechte Formel, und bis der kommt, hat das Männlein dort viele Tage gesessen und geschwiegen. (In Zeitz war Polianders Freundin bis heute nicht.)

Was in den Holzlandsagen stand, stimmte. Deshalb legte Polianders Freundin immer ein anderes Buch oben auf den Stapel, ihn zu beschweren. Dass die Geister eines Buchs aus ihm heraus gelesen werden können, stand haarklein in den Holzlandsagen beschrieben. So geschah es in Tautenhain, wo das sechste und siebente Buch Mose in einem Keller an Ketten lag. Diese Bücher enthielten „alle Lehren des Teufels für seine Anhänger, um reich und glücklich zu werden, alle Schätze der Erde zu erwerben und den Stein der Weisen zu finden, den die Menschen lange vergeblich gesucht haben.“  Und wenn nun auf eigene Gefahr ein vorwitziger Mensch hinabstieg und las, so kamen immer mehr schwarze Vögel und Käuzchen aus den Seiten geflattert, Feuerfunken und Irrlichter wie im Moor – Polianders Freundin kannte Moor! – und glühende Augen, und all das flatterte durch den Keller und setzte sich auf die Schultern des Lesenden und kreischte, knatterte und brauste, dass ihm Hören und Sehen verging. Und als das geschehen und ihm Hören und Sehen vergangen war, buchstabierte er in höchster Not das Buch von hinten nach vorn wieder zurück, um so all die Viecher und feurigen Augen wieder hineinzulesen, tatsächlich, es gelang, und als er noch immer arm, aber heiter aus dem Keller aufstieg, waren zwölf Stunden vergangen, obwohl es ihm kaum eine schien, und die ältesten Leute unter denen, die ihn an der Treppe erwarteten, meinten, er sei dem Zauberwort nahe gewesen! Um keinen Schatz der Welt wollte er noch einmal hinab. Polianders Freundin war ein bisschen naiv. Was Gelehrte längst „Entzauberung der Welt“ genannt hatten, kam in dem Ort, wo man Flurnamen wie „An der Hand“ kannte, nicht an. Und sie hatte nicht, was Kritiker „blühende Phantasie“ nennen. Polianders Freundin suchte ihr Heil im Buchstäblichen, nur dass sie unerschrocken immer vorwärtsbuchstabierte. Es gab mehr zu finden als den Stein von Weisen. Liebe Leserin, lieber Leser, die Geschichte zu einem Ort, der „An der Hand“ heißt, denken Sie sich selbst!

Wer in den Forst ging, konnte jederzeit auf ein seit dem dreißigjährigen Krieg wüstes Dorf stoßen, wo sie noch immer die Hochzeit feierten, die sie gefeiert hatten, als die Landsknechte kamen. Nur ein mutiges Mädchen, das zu Gast blieb und den Wein der Geister trank, konnte die Gesellschaft erlösen.  Im Forst arbeiteten die Köhler, Holzkohlenmeiler waren ja das verbreitetste Gewerbe. Eines Nachts kam ein Hirsch mit vierzehn Geweihspitzen und stellte sich mitten in die Glut des Meilers, der beherzte Köhler dachte: „Du wirst dir die Schuhe verbrennen.“ Doch das Tier verbrannte sich nicht und kam immer wieder, und als der Köhler einem Jäger Bescheid sagte, ging dessen Gewehr nicht los, und dem Jäger graute es so, dass er nie wieder an diesen Fleck im Walde ging. Die Köhler übten unverdrossen ihren Beruf, ganz wie die letzten Nonnen des nach der Reformation aufgehobenen Klosters Lausnitz, Farnesia und Anoetnezza, die der Blitz schlug, als sie auf dem Weg zu Kranken im Dorf waren. Und dann noch Waldsachs, der Musikant und das weiße Fräulein vom Schauenforst, und der Klosterhase, die Osterhexe, der Auszug der Zwerge, ganz besonders aber Frau Holle, die bei St. Gangloff mit ihrem Schlitten vorüberkam, direkt neben der Kornmutter, die Getreidediebe vertrieb und mit ihrer heiligen Hand die von den Frevlern umgeworfenen Puppen wieder hinstellte.

Poliander: Und das hat dich so beeindruckt?
Polianders Freundin: Weil die Sprache schlicht, genau, altbacken war, der Text durchsetzt mit historischen und geographischen Erläuterungen.
Poliander: Verklärst du die Kindheit?
Polianders Freundin: Neverever, au contraire! Ich beschreibe das Wort, das aus allem hilft.
Poliander: Sprachen wir nicht vom Suchen im Netz?
Polianders Freundin: Du. Ich bin keine irre Sucherin. Aber wie du willst, klicke hier.

Koordinaten: 50° 55′ 0“ N, 11° 52′ 0“ O und 320 Meter über dem Meer

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