Polianders Zeitreisen

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Kranz oder Krone (79) – Sommer, verloren, gefunden, Ende offen

17.08.2021 · poliander

Auch der Sommer verschwand,
Als hätt’s ihn nie gegeben.
Sonne wärmt noch den Sand.
Aber das ist zuwenig.

(Arseni Tarkowski)***

Aber es gab ihn doch, diesen Sommer, es gibt ihn noch, wenn auch nicht grad heute. Jedes Jahr gibt es ihn, den Tag, den Augenblick, in dem P. dieses Gedicht in den Ohren klingt. Das ist P.s Sommertag, und P. will auch nie mehr behaupten, keine Lyrikleserin zu sein.

Was in diesem Sommer war: ein paar Augenblicke des Zusammenseins, kein Grund zu elegischer Stimmung. Zum Beispiel mit Freundinnen oder Freunden, zum Beispiel draußen, zum Beispiel drinnen. Im Haus der Statistik zum Beispiel, Sie fahren ein paar Stationen mit der U-Bahn, Alexanderplatz. Normalerweise haben Sie da nicht soviel verloren. Diesmal schon: LOST AND FOUND. Gehen Sie einfach der Ausschilderung nach, Ausgang Karl-Marx-Allee. Das Haus der Statistik finden Sie an der Karl-Marx-Allee 1. Das ist schon ein anderes Berlin, von dem das Haus geblieben ist, aber P. war dort auch früher nicht zu Hause. P. war in einer Mietskaserne zu Hause, damals im anderen Berlin. Karl-Marx-Allee 1, eine entkernte Neubau-Ruine. Aber in Berlin ist bekanntlich noch jeder alte Neubau zu etwas zu gebrauchen. (Gut, fast jeder. Ein paar gab es, die jetzt weg sind, die vermisst P. schon.)

Jetzt ein Projekt, kann man sagen, ein Konzept, eine Pioniernutzung. Neues Wort, Pioniernutzung, aber schön.

Die Redaktion von Prolog – Heft für Text und Zeichnung hat hier einen Raum genutzt, vom 4. bis zum 14. August 2021, zehn Tage im Sommer. P. ging hin. Bilder waren zu sehen, Texte zu hören, Film gab es auch. Ja, Sie haben was verpasst. Vor allem: endlich wieder was mit anderen zu machen und nicht alle vorher schon zu kennen. Das ist es, was dieser Eintrag mit C. zu tun hat: nicht allein bleiben, nicht zu zwein bleiben, etwas zu tun, was seit eineinhalb Jahren die Ausnahme ist, auch wenn’s mal Gewohnheit und die Regel war.

Zehn Tage, und jeden Abend hielten Dorit Trebeljahr und Anton Schwarzbach, die das hier organisiert haben, eine Rede. P. war zweimal dabei, es war herzlich und unkompliziert, und es war möglich. Gute Nachrichten, neue Bilder, erfreuliche Geschichten, die können wir grad alle gebrauchen. Nicht weil der Himmel so blau ist darin, sondern weil neue Geschichten mehr sind als nur sofort, weil sie mit der Lust kommen, noch mehr zu erfahren. Es sollte möglich sein. Und Leute, Mensch: Leute!

Provisorische Räume sind die Übergangswohnungen der Kunst. Und P. findet gern etwas, wovon sie nicht wusste, dass sie es verloren hatte.

Was ich wollte, gelang,
Leicht, wie Blätter sich legen
Fünfgezackt in die Hand.
Aber das ist zuwenig.
***

Fast vergessen, wie das ist, an mehr Abenden der Woche unterwegs zu sein als am eignen Schreibtisch. Was ist der Plan? Der Plan für den Ort ist offen. Den persönlichen Plan macht sich jede selbst, C. zum Trotz, und auch wenn manche sagen, mehr als drei Wochen vorausdenken, das ginge gar nicht, nicht mit diesem C., doch, es muss gehn. Denn Pläne kann man ändern.

Gutes, Böses verschwand,
Nichts geschah mir vergebens,
Alles hat hell gebrannt.
Aber das ist zuwenig.
***

Eine Zwischenbilanz ist nicht das letzte Wort, das gesprochen wurde. Arseni Tarkowski, für P. ist das ein Sommername, ein Sommergedicht, auch wenn’s nicht so gemeint sein sollte. Wer weiß schon, was Menschen über ihr Geschriebenes meinen? Da kann man viel erzählen und viel beschweigen.

Oder einfach mal zuhören, zusehen, die gefaltete Zeichnungsreihe anschauen, die ungebetenen Briefe lesen, das große Plakat, die Fotos dieser Journalseiten und so weiter, alles ansehen und denken: Wär ich nicht dagegewesen, ich hätt was verpasst. Zuschauen, wie der große grüne Kaktus (bitte schauen Sie oben noch mal – danke!) seine Stacheln verliert, sie abgezupft bekommt, wie er auseinandergebaut wird. Der Kaktus.* Kunst sehen, die noch nicht in der Gemäldegalerie hängt, über die es noch keine offizielle Meinung gibt, über die P. bei sich selbst die erste und bei Zufallsbekanntschaften die zweite Meinung einholt. Ja.

Solche Nachberichte, das macht P. doch sonst nicht, und hier schon zum zweiten Mal? Stimmt. Aber P. hatte was verloren, viel, und das konnte P. selbst auf den schönsten Einzelabstandsspaziergängen nicht finden, und die waren wirklich schön, jeder einzelne in diesem ganzen langen Anderthalbjahr, und P. denkt auch sehr gern und froh an die Mitspaziergängerinnen.

Meditativ und diskursiv, sagt P., ganz schöner Dualismus, wirklich schön. Aber doch nicht, weil ein C. es erzwingt! Und als das Anderthalbjahr rum war, ging P. zu LOST AND FOUND, hörte was zu, sah was an, las was vor, trank was Bier. “Haus der Statistik”, nie gehört vorher und früher immer übersehn. Karl-Marx-Allee, nie so ganz mein Einzugsbereich, sagte P., und P. sagt jetzt: Was für ein freundlicher Ort, was für freundliche Menschen. Halleluja, Kolleg!nnen! Haben Sie was verpasst? Macht nichts, macht was, aber ist kein Grund zu elegischer Stimmung. Lesen Sie doch einfach mal so ein Heft. Die Hefte sind auch wie eine Ausstellung, mit Kunst, die – .

Für jetzt, für gleich können Sie mit P. den Rest von Tarkowskis Gedicht lesen. Und dann lesen Sie es noch einmal extra, lesen Sie es ganz, halblaut oder laut:

Seine schützende Hand
Über mich hielt das Leben,
Hab das Glück gut gekannt.
Aber das ist zuwenig.

Und kein Blatt ist verbrannt,
Und kein Ast brach, und Regen
Hat der Tag mir gesandt.
Aber das ist zuwenig.

Und gehn Sie raus, finden Sie was. Und ach was!, Wetter.


Koordinaten: Dorit Trebeljahr, Anton Schwarzbach. Prolog – Heft für Zeichnung und Text. Berlin, Karl-Marx-Allee. 52° 31′ 22,1” N, 13° 25′ 5,9” O
Covid-Zahlen: 3.827.051 (Zahl laut täglichem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 17. August 2021). Genesene: ca. 3.684.700 (vom RKI geschätzter Wert zum gleichen Datum). Einmal geimpft: 52.583.655, zweimal geimpft: 47.603.282 (beide Zahlen laut Lagebericht vom gleichen Datum)

* “Die Welt ist ein Kaktus”: Kaktus von Christine Kriegerowski
** Alle Fotos: Klaus Meyer-Gramann
*** Kursiv gesetzt: Auch der Sommer verschwand von Arseni Tarkowski, übertragen von Katja Lebedewa, erschienen in Poesiealbum 256. Quelle im Internet: Planet Lyrik, an dieser Stelle und versehen mit Erläuterungen, Zitaten, Erinnerungen.

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