Polianders Zeitreisen

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Kranz oder Krone (41) – lesend im Homeoffice

27.04.2020 · poliander

Blick aus dem Fenster: hell. Hell. Hell.

Geräusch dort drüben: Sägenkreischen.

Geräusch da draußen, überall: Amsel, Sperlinge, der helle Schrei des Bussards. Der ist eine Überraschung, wie souverän der fliegt, und wie hell der schreit.

Wenn eine als Leserin einmal sozialisiert ist, das legt sie nie ab. Sie schaut sich um in fremden Badezimmern, ob es da nichts zu lesen gibt, und sei’s die Aufschrift auf dem Waschpulverkarton. Kennen Sie das? Im eignen Badezimmer kommt’s nicht drauf an, da sind ja noch andere Zimmer, wo eine lesen kann.

Dem Gefährten was davon erzählen, was eine gerade liest, dann:
P.: Vielleicht kannst du ja mal draufschauen, du bist ja sozusagen der naive Leser- (Stockt, schweigt, peinlich berührt von sich selbst:) Also ich mein jetzt nicht, dass du naiv wärst.
G.: Schon klar, ich bin nicht professionell.
P.: Aber auch nicht unprofessionell.
G. Ja, gut, einfach nicht…
P.: … nicht vorbelastet.

Die vorbelastete Leserin steht neben sich, wenn sie liest, und schaut sich zu. Sie schaut den Figuren im Text zu, falls es welche gibt, versteht sich. sie schaut den Wörtern zu, wie sie sich ineinander fügen und ihre geregelten Schritttänze gehen oder ungeregelt durcheinanderspringen. (Wie jene Tänzer!nnen, erinnerst du dich, in dem Stück, das “Kiruna” hieß, in der Maschinenhalle Gladbeck, wo ein Käfer P. ins Bein biss, der sich den Mund nicht gewaschen hatte. Der Käfer nämlich.)

Naiv lesen, einfach so, als wüsste sie rein nichts über Text, gelingt P. nur selten. Versunken lesen, während draußen ein Vogel schreit, der schreit die ganze Zeit, aber man hört ihn nur hie und da, wenn die Seite umgeblätert werden muss.

Gott, haben Sie viele Bücher, haben Sie die alle gelesen?
Und noch ein paar andere auch.

Ja kann Lesen Arbeit sein, macht P. doch auch, das Lesen als Arbeit, sogar Korrektur lesen. Als ob eine immer und immer wieder das Wort “Korrektur” lesen würde. “Du liest jetzt zur Strafe 200 mal das Wort ‘Korrektur’!”

Durchlesen, auslesen, einlesen, ablesen, überlesen, mitlesen, vorlesen, nachlesen. Zerlesen, verlesen. Ährenlese, Fehlerlese, Spurenlese, Blütenlese. Beerenauslese. Federlesen, ohne Federlesens, ohne Feder lesen, ja kann man auch mit Feder lesen? Wenn man eine in der Hand hält… Na gut, was für eine Feder? P. nimmt eine Eichelhäherfeder. Damit kann man nicht schreiben, das ist wahr, dafür ist sie blaugestreift.

Ich lese die Streifen des Eichelhähers in seiner Feder.

Lesen am Tag, lesen im Dämmer, “Du verdirbst dir die Augen”, P. schlug es in den Wind, der aufkam, wenn das Fenster geöffnet wurde, nur kurz, denn die Kohleneimer waren schwer zu tragen, im Dunklen, lesen unter der Bank im Physikunterricht, lesen im Zug, in Zügen, immer und immer wieder, ein Buch kaufen, das für die Fahrt Berlin – Karlsruhe reicht. Lesen unter der Bettdecke, das betrifft die Gegenwart, Lesen im Urlaub nämlich unter der Bettdecke, um den anderen nicht aufzuwecken. So viel Trost rauslesen, um weiterschlafen zu können. Im Schlaf Seiten beschriebenen Papiers sehen, gelesene Worte, die den Kopf nie verlassen (und ob ich schon wanderte im finsteren Tal) Wissen Sie eigentlich, liebe Leserin, warum man sich manche Worte so leicht merkt (… ist die Nacht von Dornen erhellt) und warum man so oft denkt, dass die anderen, die man liest, stets viel besser schreiben können (Das raffinier- / te Tier / tat’s um des Reimes willen), warum man manche Bücher schon wegen ihres Titels lesen muss (Nachtgeschwister). Und so weiter.

Das haben Sie jetzt aber hineingelesen!
Ach.

Was haben Sie heute schon gelesen? Aber Sie tun’s noch, oder? Es ist ja noch lange hell.

Koordinaten 1: 155.193 (Zahl laut Robert-Koch-Institut vom 27. April 2020, 0 Uhr, online aktualisiert 8:30 Uhr), Genesene: 112.000 (vom RKI geschätzte Zahl laut Lagebericht vom 26. April 2020)
Koordinaten 2: Psalter, Bachmann, Morgenstern, Wodin)

Kranz oder Krone
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