Polianders Zeitreisen

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Luscinia megarhynchos, Zeitgefühl und Arbeitsteilung

09.06.2016 · poliander

Am hellen Vormittag singt sie an unserem Platz, der von einer Autobahnabfahrt überspannt und geteilt wird. Oben rauscht es, unten gehen die Leute zum Supermarkt, rasch die meisten, denn aus dem Gestrüpp dringt faulig süßer Geruch, dessen Ursprung nur eine Pflanze sein kann, denn er erscheint jeden Frühsommer und verschwindet pünktlich vor dem Eintreffen des Hochsommers, man könnte die Uhr nach ihm stellen. Aber die Uhr, direkt überm U-Bahn-Eingang, geht genau nach der Uhr.

Weiß die Nachtigall denn nicht, wie spät es ist? Es ist um 11, meine Liebe! Die Sonne kommt höher und wärmt die Älteren, die zu dieser Stunde zum kleinen Supermarkt gehen. Wer langsam zu Fuß ist, kommt nicht rasch am Faulgeruch vorbei. Man mag gar nicht atmen, muss aber doch. Die Nachtigallennase schert sich nicht an Gerüche. Das Gestrüpp ist von Blattläusen und anderen Insekten übersät, bestem Vogelfutter. Im Gestrüpp singt das Tier bühbühbühbüh-blühblühblüh-schmetschmetschmettschmett-Pause-bühbühbühbüüüh, beginnt von vorn, variiert. Die alte Dame sucht mit den Augen. Was für ein Lärm. Sie lächelt. Der da singt, ist in Wahrheit der Nachtigall, Nachtigallenfrauen sind die, die das Nest baun, allein.

Wir sind Mitbewohner in dieser Stadt, die Leute, die Nachtigallen, die Blattläuse und ich. Offene Ohren am hellen Vormittag.

Koordinaten: 52° 28′ 1” N, 13° 18′ 32” O, Nachtigall in der Roten Liste gefährdeter Arten, schönes Lied, ganz anderswo gefunden.

Ohrenschmaus
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