Polianders Lieblingsbuchladen heißt nach Miss Marple und gehört Miss Marple. P. mag diesen Laden nicht nur, weil es dort so intensiv nach Büchern riecht, denn nach Büchern riechen sollte schließlich jeder Buchladen. P. liebt den Laden, weil es dort lustig zugeht, weil Miss Marple die Bücher gelesen hat und weiß, wem sie was empfiehlt. Selten danebengelegen. Dann aus dem Lädchen raus und nur eine Ecke weiter gibt es guten Kaffee, mit dem dann sitzen und in Büchern blättern, und ja, es sind Bücher, nicht Dateien. Da muss nicht einmal jedes Lieblings- und Lieblinginsbuch P.s ein Kriminalroman sein.
Bei Miss Marple kann man auch lesen hören. Lädchen platzt aus allen Nähten. P. und Gefährte werden auf die letzten beiden freien Plätze geschickt. Setzen geht erst mal nicht, da P.s Oberschenkelknochenlänge den Abstand zwischen Stuhllehne und Vorderfrau übersteigt. Bisschen gereiztes Gewisper vor und hinter uns, dann klemmen wir schief in der Stuhlreihe.
P. und Gefährte sind hier, ohne einen Schimmer von den Büchern zu haben. Pfingstrosenrot und Kornblumenblau vom Balkan wurde versprochen. Zwei wirklich sympathische Leute kommen herein, Volic und Schünemann, bisschen älter als auf den Fotos vom Verlag, aber das macht ja nichts. Wir sind wegen der Balkangeschichten hier, und das Versprechen heißt, dass wir ihn nach Lektüre besser verstehen werden als vorher. Kann natürlich nicht schaden. Obwohl wir nicht denken, dass wir ihn bisher so vollkommen missverstanden hätten. Den Balkan. „It’s all about the Balkans“, ist nicht unser Satz, sondern einer, der fiel auf dem Marktplatz von Sibiu, während wir zur Musik zappelten, und dabei sah Sibiu so gnadenlos erfurtisch aus (die Oberstadt sah aus wie Erfurt nach der Generalrenovierung, und es roch nach nichts, in der Unterstadt sah es aus und roch wie Erfurt in der letzten DDR-Verfallsperiode, feucht und stockig), das nur am Rande, denn Schünemanns und Volics Geschichten spielen dort, wo die Balkanklischees noch ein bisschen dicker, düsterer und tabubesetzter sind als die über Siebenbürgen: in Serbien und im Kosovo.
Vor allem Volic hat es uns sofort angetan. Ihre Arbeitsweise geht nämlich so: Liegen vier alte Männer in einem Krankenzimmer, überlegt sie sich die Geschichte eines jeden. Wo kommt er her, wie alt ist er, wie heißt er, wie war sein Spitzname als Kind, wie sieht er aus, ist er gutgelaunt oder nicht, woher kommt seine Krankheit und so weiter. Was P. wirklich stört: Diese Geschichten erzählt Volic nicht etwa uns. Sie erzählt sie Schünemann. (Schriftlich, nehmen wir an, oder meistens schriftlich.) Schünemann schreibt sie auf. Dabei gehen sie zu einem großen Teil verloren, nur der Duft und Hauch bleibt. (Und P. fragt sich, ob der dann im Verlag noch mal ein bisschen, sagen wir, verschüttelt wird.) Aber jedenfalls, P. und Gefährte, hätten überhaupt nichts dagegen, dass Volics und Schünemanns Geschichten ein kleines bisschen geschwätziger wären. Dass noch mehr drin stecken blieben von Volica Geschichten. Gut, von Milena Lukins Leben erfahren wir dann, beim Selberlesen, doch eine ganze Menge, und Lukins Privatleben überzeugt uns mehr als das manches anderen Hobbykriminalisten. Weil Kriminalistik einfach nicht ihr Hobby ist. weil eine Frau immer tun muss, was eine Frau tun muss. Also der Balkan ist auch ein Land, wo Leute wohnen. Falls da jemand was andres annahm. Auch ein Land, in dem Kriminalgeschichten spielen. Kriminalgeschichten, die auch mit Europa zu tun haben (wo es ja immer noch Leute gibt, die denken, manche Länder gehörten einfach nicht dazu, oder nicht ganz dazu). Auch ein Land, dessen Geschichten intensiv mit Geschichte verbunden sind, auch deutscher, und auch mit deutscher Gegenwart. Ja, das ist interessanter als die meisten Thriller.
Nein, P. erzählt jetzt keine von diesen Geschichten nach. Höchstens sagen wir, dass Milena Lukin aber nun definitiv besser aussieht, als sie denkt. Und dass sie ungeheuer liebenswert ist, kämpferisch, stur. Was P. natürlich mag, im Roman wie im Leben. Und dass es sich lohnt, an den Stellen weiterzulesen, wo die Lesung stets klug unterbrach. Also was sollen wir sagen, wir haben zwei Bücher gekauft. Und der Dame in der Schlange, die fragte, ob P. und Gefährte zwei Bücher kauften für den Fall der Trennung, der haben wir auf die Hände geschaut. Sie hatte nur ein Buch. Tja.
Was wollten wir sagen? Pfingstrosenblau und Kornblumenrot. Vergnüglich. Lesen.
Koordinaten: 52° 31′ 0“ N, 13° 18′ 0“ O, Krimifrau Marple, Schünemann und Volic,