Endlose, fiebrige Nachmittage, der erkaltete Tee neben dem, im Bett aber die olivfarbnen Bände jener Volksausgabe, deren Eigenart, auf den letzten Seiten veraltende Worte zu erklären, das Mädchen ausgiebig nutzte. Die Gedichte überblätterte sie, obwohl sie „Die graue Stadt am Meer“ auswendig hatte lernen müssen. Husum, sie hatte die Achseln gezuckt, eine Stadt, deren geographische Lage der Lehrer nicht erklärte. Sie nahm an, Stadt und Nordsee, mitsamt auch dem später im Uunterricht erscheinenden Schimmelreiter, mitsamt Klei, Koog und Deich wären Orte, die in der Vergangenheit lagen, ganz wie das wüste Dorf aus den Holzlandsagen, unauffindbar im Wald, wo Schatten tanzten.
In einiger Entfernung von meiner Vaterstadt, doch so, daß es für eine Lustfahrt dahin nicht zu weit ist, liegt das Dorf Schwabstedt, welcher Name nach einigen Chronisten soviel heißen soll: Suavestätte, d. i. lieblicher Ort. Hoch oberhalb des weiten wiesenreichen Treenetales, durch welches sich der Fluß in schönen Krümmungen windet, ist der alte Kirchspielkrug, dessen Wirt bis zu der neuesten, alle Traditionen aufhebenden Zeit immer Peter Behrens hieß- So beginnt der Dichter und breitet gleich schlohweiß gedeckten Tisch, Lindenlaube und Teichrosen aus, um, wenn dies alles ganz bildlich vor der Leserin erschienen ist, sich zu Efeu, einem verschwundenen Hafen der Vitalienbrüder, Mauerresten und den von Kindern ausgegrabenen Zahnreihen wilder Schweine zu steigern. Dann, noch auf der gleichen Seite, erscheint ein verfallenes Gehöft und wer wohl hat da vor hundert Jahren gewohnt? „Dotomal hätt de Hex hier wahnt.“
Die Geschichte jener Hexe werden P. oder ich hier nicht erzählen. Besser als Storm mit seinen adjektivreichen Sätzen und raffinierten Konstruktionen könnten wir es ja nie tun. Wir erzählen nur schnell von damals, als sich die beiden Novellenbändchen in dem Fieberbett wie auf dem Hausaufgabenschreibtisch, an dem alles gemacht wurde, nur nicht Hausaufgaben, Raum verschafften wie sonst nur die Märchen der Brüder Grimm mit ihrem trockenen und drastischen Stil. In beinahe jeder der Geschichten fiel, was uns verwirrte und erregte, dem Erzähler ja alsbald ein Heft in augenscheinlich noch viel älterer Schrift in die Hände, und eine so melancholische wie wandlungsreiche Geschichte begann, die P. und ich zu tage- und wochenlangen Abenteuerfäden fortspannen. „Wo hast du wieder deine Gedanken!“ Wo nur.
Verwundert haben uns nur die biographischen Angaben, die dem Dichter eine Zeit in Potsdam zuwiesen, was wir verständnislos aufnahmen: Potsdam lag doch in der DDR! Heiligenstadt, das passte eher, mit dem Namen und in Grenznähe dazu, ob nun hüben oder drüben, und dabei so fern von der Nordsee, o du Abenteuer, wo wohl der kunstreiche Kasperl sein Zuhause hatte. Doch Pole Poppenspäler war uns zu kindlich, was unser kindlicher Ausdruck für Kitsch war. Die Regentrude hingegen, hah! Den Schimmelreiter verdarb die Schule, wo Lehrer Betzhard Deichprofile abzeichnen ließ und darüber Literaturarbeiten schreiben. Der Schimmelreiter im grünen Buch war ein anderer, verwegener als der Musterschüler in dem auf mieses Papier und in allzu großer, deutlicher Schrift gedruckten Klassenexemplar.
Im Fieberzimmer hatte ich die Nordsee, ein Meer, den Rand des Atlantiks. Im Leben hatten wir den Ost-See mit seinem lehrreichen Vineta-Exempel. Husum aber, eine kleine Stadt mit verschlicktem Hafen, Häusern, in denen überall Storm gewohnt hat oder doch einer, der ihn kannte, ist heute unser liebster Durchreiseort geworden. Die Brücke und ihre Mechanik betrachten, einen Abend im dunklen Schlosspark vertun, den Löwen ins Gesicht schauen, denen das Seewetter die Züge wie mit Pockennarben getilgt hat, einen Morgen auf den Bus warten, nach Nordstrand fahren, den Inselrest, der durch eine jener Fluten entstand, von denen in den olivgrünen Büchern so ausdauernd die Rede war. Von Nordstrand also fahren wir zu den Inseln den Inseln den Inseln. Unter Wolkenbögen, Regenbögen, Sonnengeraden und ganz dicht vorbei an den Windrädern, die ihre gut geölten Arme drehn.
Koordinaten: 54° 29′ N, 9° 3′ O