Polianders Zeitreisen

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Nicht der Ort

05.04.2012 · poliander

Poliander liest manchmal Gedichte, schreibt aber nie welche. Das, findet P., liegt daran:  Die Zahl der guten Gedichte in einer Sprache ist begrenzt. P. streitet nicht, ob es hundert sind, fünfhundert oder fünf. Aber hunderttausend sind es nicht. Möglicherweise sinkt für jede neue gute Gedicht ein anderes gutes ins Vergessen. “Ich weiß nicht, was ein gutes Gedicht ist, aber ich erkenne es sofort, wenn ich es sehe”, sagt P.

Poliander wird auch ärgerlich, wenn einer eine, irgend eine, sagen wir: seine Meinungsäußerung mit irgend welchen Zeilenumbrüchen versieht, um sich und seine Meinung ins warme Mäntelchen dieses sogenannten Gedichts zu schlagen oder um, sagt P., mit seiner Meinung in den Windschatten der Dichtung zu treten. Dafür ist Gedichtung nicht da. Die Mähre, auf ein eitler Preisträger in den erhofften Skandal reitet, ist kein Gedicht.

Ein gutes Gedicht, sagt P., gilt auch, wenn der Tag, an dem es geschrieben wurde, vorbei ist. Ein gutes Gedicht hat einen guten Stern, selbst wenn es im Zeichen des schlechten Sterns geschrieben wurde. Poliander lächelt, hat beim Reisen gern ein Gedicht über Gedichte dabei.

Rede vom Gedicht

Das Gedicht ist nicht der Ort, wo die Schönheit gepflegt wird.

Hier ist die Rede vom Salz, das brennt in den Wunden.
Hier ist die Rede vom Tod, von vergifteten Sprachen.
Von Vaterländern, die eisernen Schuhen gleichen.
Das Gedicht ist nicht der Ort, wo die Wahrheit verziert wird.

Hier ist die Rede vom Blut, das fliesst aus den Wunden.
Vom Elend, vom Elend, vom Elend des Traums.
Von Verwüstung und Auswurf, von klapprigen Utopien.
Das Gedicht ist nicht der Ort, wo der Schmerz verheilt wird.

Hier ist die Rede von Zorn und Täuschung und Hunger
(die Stadien der Sättigung werden hier nicht besungen).
Hier ist die Rede von Fressen, Gefressenwerden
von Mühsal und Zweifel, hier ist die Chronik der Leiden.
Das Gedicht ist nicht der Ort, wo das Sterben begütigt
wo der Hunger gestillt, wo die Hoffnung verklärt wird.

Das Gedicht ist der Ort der zu Tode verwundeten Wahrheit.
Flügel! Flügel! Der Engel stürzt, die Federn
fliegen einzeln und blutig im Sturm der Geschichte!  
Das Gedicht ist nicht der Ort, wo der Engel geschont wird.

Christoph Meckel

Koordinaten: Quelle von Christoph Meckels Gedicht im Web. Sollte wer finden, dass Poliander zu Unrecht dieses Gedicht hier zitiert hat, so bitten wir freundlich um Nachricht auf diesem Weg.
Aktueller Anlass (falls jemand tatsächlich den Text, denn der deutsche Nobelpreisträger Grass als ein Gedicht deklariert, nicht gelesen haben sollte, bittet Poliander, diesen selbst zu googlen), berechtigte Kritik.

Buchstabenfracht
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