Polianders Zeitreisen

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Geschüttelte Faust und eleganter Fingerzeig

18.12.2011 · poliander

Es muss zwischen September 1983 und Mai 1989 gewesen sein, dass in der Berliner Almstadtstraße eine Galerie öffnete. Wahrscheinlich ist es nicht vor 1985 gewesen, da Poliander und ich in unseren ersten beiden Jahren in Berlin die Almstadtstraße, die frühere Grenadierstraße im Scheunenviertel, sicher nicht kannten. Wir wohnten in Ostkreuz. Am wahrscheinlichsten ist, dass ich um 1987 zum ersten Mal in der Galerie war. Sie hieß sicher “Weißer Elefant”. Beim ersten Besuch sahen P. und  ich dort Bilder von Gundula Schulze, später erneut. Ihre Fotografien waren vor allem eines: radikal. Heute sehe ich diese frühen Arbeiten der Fotografin Gundula Schulze Eldowy wieder und weiß, dass ich sie auch damals so verstanden habe. Auf einem der Bilder taucht eine alte Frau aus dem Dunkel und schüttelt die Faust, gegen einen Menschen, der links im Bild nur bruchstückhaft erkennbar ist, sicher auch gegen die Kamera. Die Frau ist wütend, sie hat nicht aufgegeben, ihre Wut hat viel Überzeitliches, Mythisches, viel, das über den Ärger, unerlaubt fotografiert zu werden, hinausgeht. Ich erkenne darin die Wut von Leuten wieder, die ich in Moskau fotografierte, im Sommer 1990, auf einem Markt, auf dem es beinahe nichts zu kaufen gab… Auf einem anderen Foto, bei dem ich nicht sicher bin, ob ich es damals in der Almstadtstraße gesehen habe, stehen zwei Mädchen schräg im Bild, trotziger Blick über schweren Schatten, dunkle Ponys, die ihre Gesichter zusätzlich bedrücken, und eines der Mädchen macht eine klassische, elegante Geste mit dem Finger. Sie zeigt zur Erde und weist auf etwas, das die Betrachterin nicht sieht. Poliander sagt: in die Unterwelt. Das andere, größere Mädchen stützt sich auf einen Stock oder Stecken. Die Blicke sind zeitlos, die Kinder ohne Alter.

Berlin, in das Poliander und ich in den frühen achtziger Jahren kamen, haben wir nie als Heimat verstanden oder es sonstwie gekauft. Vielmehr nahm die Stadt uns in Besitz, schluckte uns umstandlos, hat uns seitdem oft geschluckt, verdaut, wieder ausgespien. Die Anonymität der Stadt hat viele Gesichter, die wir in den Fotografien von Gundula Schulze wiederfinden und auf der Straße, noch immer. Die Gesichter, nicht die Anonymität. Die S-Bahn-Bögen, nahe am Bahnhof Friedrichstraße waren mit faustgroßen Löchern übersät, viele Häuser hatten ebenfalls diese tiefen Löcher in ihren Fassaden. Auch in Erfurt hatte es Verfall gegeben, Vernachlässigung, waren Häuser buchstäblich vor unseren Augen zusammengebrochen. Dort hatten wir in einem der ältesten Häuser der Stadt gelebt, einem verbauten Labyrinth winziger Wohnungen, Dachböden, Keller, teils baupolizeilich gesperrt, auch sonst baufällig an der Grenze zur Begehbarkeit. Wenn es gewitterte, floss das Wasser in Sturzbächen über die Haustreppe, die innere, versteht sich. “Ruinen schaffen ohne Waffen” lautete der bittere Spruch, den die Erfurterinnen hersagten, um ihren Kummer über die Verkommenheit der Innenstadt, die im Krieg unzerstört geblieben war, auszudrücken. Kam Honecker zur Staatsjagd, strich man die “leergewohnten” Häuser über dem verdreckten, abblätternden Putz, soweit der Blick aus einem auf der Hauptstraße fahrenden Auto in die Seitenstraßen hinein möglich war. Auch in Berlin waren die Häuser verkommen, doch diese Ruinen waren durch Waffen entstanden. Die meisten Zerstörungen rührten vom Krieg und den  Kämpfen der letzten Kriegstage  her. Viele Gesichter beherrschte eine unterdrückte Wut, oft auch Resignation. Schulzes Fotos rufen die Erinnerung an diese Zeit zurück, an die späte DDR, in der ich verständnislos schaute, wenn Freunde aus dem Westen beklagten, Ostberlin sei so grau. Ja wie denn sonst? Und als P. und ich später Westberlin sahen, haben wir es eben nicht groß anders empfunden. Sicher, es war mehr und besser renoviert. Doch bis heute finden wir, selbst im gepflegten Südwesten, in manchen Straßenzügen Häuser, die Narben des Krieges tragen, zuweilen überwuchert vom Efeu. Manchmal, damals, kamen Freunde aus der Provinz und suchten in Berlin eine Wohnung, dann liefen wir sonntags stundenlang treppauf, treppab und fragten nach freistehenden Wohnungen. Viele Leute öffneten auch nachmittags im Bademantel, meine Besucherinnen staunten: Kümmerte es denn keinen, was man hier machte, sonntags nachmittags? Poliander und mich kümmerte es nicht. Es gefiel uns sogar.

Schulze Eldowys Fotos werden in der Galerie c/o Berlin gezeigt. Dort, im ehemaligen Postfuhramt ist das Abgeranzte eine Allianz mit der Sparsamkeit eingegangen. Keine Wand gestrichen, nichts renoviert, die Hinweisschilder dienen der Orientierung im Haus kaum andeutungsweise, auch wenn sie aus Freundlichkeit für Touristen in englischer Sprache sind. Nicht zu renovieren galt in den 1990er Jahren als irgendwie schick, vielleicht verband sich in der 2000 gegründeten Galerie damit die Hoffnung auf das Provisorische aller Existenz. Die Bilder von Gundula Schulze Eldowy wirken an diesem Ort, der die Verkommenheit der letzten DDR-Jahre perpetuiert, dennoch vollkommen fremd. Die kleine Galerie “Weißer Elefant” in der Almstadtstraße, lebhafte Erinnerung, war ein Laden mit riesigen Fenstern, die Wände schneeweiß gestrichen. Alle, die ich kannte, liebten den Ort und bangten um seine Weiterexistenz. Denn Schulzes Bilder erschienen unerhört subversiv, nicht obwohl, sondern weil das, was sie zeigten, jeder in der umgebenden Realität sehen konnte. Auch seine Zerstörung, übrigens, denn noch vor 1989 begann man, einen Teil der Almstadtstraße neu zu bebauen, mit unschönen, disproportionierten Wohnhäusern.

Heute überfallen Schulzes Fotos die Besucherin, die schon vor 1989 in Berlin lebte, wie ein Déjà-vu. c/o Berlin zeigt, dankenswert, auch den Film “Aktfotografie. Z.B. Gundula Schulze” von Helke Misselwitz (1983). Wer sich die zwölf Minuten nimmt und ihn ansieht, kann neben dem Gespräch mit Gundula Schulze Sequenzen sehen, die  Misselwitz in einer Kaufhalle gefilmt hat. Sie sind wundervoll.

Koordinaten: 52° 31′ 29” N, 13° 23′ 40” O, “Berlin in einer Hundenacht”. youtube:  Interview mit Gundula Schulze, Interview Teil2, Teil 3Ausstellung bei c/o Berlin, 10. Dezember 2011 bis 26. Februar 2012

Ausgrabung
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