Polianders Zeitreisen

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Hinterm Baugerüst eine ganze Welt des Verbrechens

30.06.2011 · poliander

Blick beißt Baustelle

Blick beißt Baustelle

Die Stadt ist eine Baustelle. Poliander und Polianders Freundin lachen heute noch jedesmal, erinnern sie sich an jene Düsseldorfer Reisegruppe, die auf der Wilmersdorfer die Altstadt suchte. Diese Stadt hat keine Altstadt. Diese Stadt ist auch nicht alt. Das Mittelalter fand anderswo statt. Und seitdem ist diese Stadt, dieses Konglomerat aus Dörfern, Kiezen, Kleinstädten, eine Baustelle. Die Preußen lebten gern anderswo. Hier leben wir Zugereisten. Aber nicht in Hotels mit schalldichten Fenstern. Wir leben immer da, wo der Krach ist. Zeig eine Straße, in der kein Haus Gerüst trägt, Poliander gibt dir einen aus.  Wenn die Laune es erlaubt. Dabei hat P.s Haus kein Gerüst. In P.s Haus wird nicht einmal gebaut. Nein, P. darf am Bau fremder Gebäude teilhaben, akustisch zum Beispiel und durch Vibration. Morgens um sieben wackelt die Wand, alles flieht. Irgendwo verbringt man den Tag mit Arbeit. Abends, ehe alle zurückkehren in das erschütterte Haus, hinter dem selbst die Mülltonnen dreckiger aussehen, als Mülltonnen es normalerweise tun, vor dem die Bäume müd die Blätter regen, um den Staub loszuwerden, abends sucht P. einen Trost, den man in die Tasche stecken, im Haus dann rausholen kann. Kriminalromane trösten so gut wie Rotwein und Schönheitsampullen. Gleich guckt man sich Baustellen schön, werden sie literarische Orte, in denen Liebe und Wirtschaft stattfinden. Krimikauf ist Vertrauenssache, Fachfrau ist Miss Marple, Weimarer Straße. P. kommt von hinten, von der Pestalozzi. Und beinahe findet P. den Laden nicht. (Baugerüst.) “Ich brauche Beratung”, sagt P., “ich brauche ein Buch für eine Frau, die ist müde und hat zu viel Lärm in den Ohren gehabt diese Tage, ein Buch, in dem die guten ins Kröpfchen und die bösen ins Töpfchen, genau so bitte”, sagt P., dass es nicht zu platt ist und doch leicht genug nach so einem Tag, wo sie die Flucht von einer Baustelle zur nächsten auf den Schultern und untern Fußsohlen hat. Miss Marple lächelt verstehend. “Ja”, sagt sie, so eins hätte sie auch gern. Sie greift ins Regal. “Vic Warshawski“, sagt sie, “Nein!”, ruft eine Dame, die am Regal steht, “ist die nicht  langweilig?” P. schüttelt den Kopf, die ersten fünf waren’s wohl nicht, dann kam zwar ne Durststrecke, aber die, wie Miss Marple sagt, ist jetzt rum. “Genau”, jetzt strahlt sie, Miss Marple, das empfiehlt sie jetzt wieder. “Paretzky, das war meine erste. Ohne die gäb’s den Laden nicht.” Die Türglocke klingt, P. rafft das Buch. “Meins.” Hier, denkt P. beim Bezahlen und lässt den Blick über die Regale wandern, in denen die Bücher brav sortiert nach Ländern stehn, hier hinterm Baugerüst stehn die Verbrechen, jedes für sich, in lesbar tröstenden Dossiers, und Baugerüste sind wirklich nicht das schlimmste auf der Welt.

Koordinaten: 52° 30′ 17” N, 13° 18′ 12” O, so fahrn wir hin, dann zu Fuß die Kant runter Richtung Savignyplatz, auf der linken Seite scharf rein in die Weimarer. Lohnt sich auch, wenn das Gerüst weg ist, auch wenn man längst neue Leiden entdeckt hat statt die Baustellen Berlins.

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