Polianders Zeitreisen

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1001 Piraten und ein Hund

17.05.2010 · poliander

Poliander als Kater gestiefelt: eilt nach Bingen an den Rhein, mit der Bahn. Fragen Sie nicht! P. erzählt es auch so. Ab Mainz, wo vom Bahnsteig die Mittelrheinbahn geht, schwirrt das Züglein von fremder Sprache und Englisch mit jederlei Akzent. Zwei Jugendliche sprechen italienisch, in einer Reisegruppe aus Sachsen werden früh halb zehn schon Schnappsfläschchen geleert, und ein chinesisches Liebespaar mit Schnellhefter deutet flüsternd in seiner Zettelwirtschaft herum, die Orte, Speisen, deutsche Floskeln verzeichnet und Zeichen zeigt, die Poliander nicht lesen kann, P. versteht nicht mal die dicken gezeichneten Milchkühe. Ein Mittzwanziger erklärt seiner Harry-Potter-affinen Begleiterin, warum er eine der großen Herrschaftsparteien nicht mehr wählt: Ministerin zu jung, zu kinder- und zu ahnungslos. Poliander fremdelt, will der hin, wo Poliander hin will?, Bingen Stadt springt er ab, Poliander aber steigt Bingen Hauptbahnhof aus, zwei Bahnhöfe haben eine Geschichte für sich. P. geht zum letzten Ende des Bahnsteigs, treppt in den Himmel und wieder hinab, Wiesen am Fluss, saubere Wege, wenig Gebüsch, und jenseits der Fels und diesseits der Turm, von dem das verträumte Volk eine grausig gerechte Geschichte weiß. “Eingang für Presse, bitte hier, bitte hinten, bitte links herum.” Kathedralen des Fortschritts?, dreh ne Nummer runter, Poliander!, also: Hallen der Netzwirklichkeit, wo der Strom noch aus Steckdosen kommt, zwischen hundert Bänken ringeln tausend Kabel, und Poliander steht unter tausendundeinem Gestiefelten und Geschuhten: Männer mit apfelsinenfarbigen Hemden, Piratentücher um die Köpfe, helle Augen, spiegelnde Monitore, jeder hat einen, manche zwei, ist das dort nicht Marc Vandoosler? Eine Dame mit glatt grauem Haar blinkt Poliander an: “Bist du Marlena?”, raunt was Schönes von Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit, P. wird ganz schwummerig vor Interesse, “Ich habe Lust”, spricht She-Pirate, “in einer Gruppe zu sein, die keine diskriminiert”, Lust in ner Partei, denkt P., fast zu schön, um wahr zu sein.

Doch wer von euch, vielliebe Leserinnen und Leser, das nun genau wissen will, muss selber hinschwimmen und -rudern unters geblähte Segel. Bei der Meinungsbildung kann Poliander Gucktnur nicht helfen.

“Also”, ruft einer, “Piratenkapitän, rede, die Kamera zeigt auf dich und wirft dein Bild zurück!” Sie gehen absichtlich ins Netz, aber wolln sich nicht drin verfangen, blasen, um nicht zu ersticken, Muschelhorn und Lautsprecher gegen die obere Etage, die alle und all unsere Daten und Taten sammeln, konzentrieren, verwerten will. Dagegen die Ordnung der Piraten geht so: Jeder redet 30 Sekunden. Nur manchmal brechen Sätze sich Bahn in die Zeit, und die Versammlungsleiter haun mit der Faust durch die Luft. P. wirft Fragen in die Wellen und kriegt viel Antwort.  Wo sind die Schätze der Piraten? Sie liegen offen, selbst vorm Bundeswahlleiter, das hat der Piratenschatzmeister getan, stolz und im Trench geht er durch die Reihen, grade und mit dem gefleckten Hund am Band, der diszipliniert auf der Bühne die Wahl abwartet, zerrt nicht an der Leine, ist würdig, sein Name: Cpt. Jack Sparrow. Beifall bitte! Und der Tag ist lang, wer zusammengefasst  Substantielles lesen will, kann ja Ulrike G. fragen, sie hat auch was geschrieben, hier. Poliander geht abwesend durch die Reihn, Piratinnen können Piraten oder Piratinnen sein, verwirrt sich, geht mal raus, da fahren die langsamen Schiffe, von den Enterhaken des Fremdenverkehrs betroffen, am Rhein ist es ja so schön, zurück also zu den Realisten, die, sagt der Pressepirat, sich “sehr stark selber verwalten, das ist die Kultur, aus der sie kommen”, und er schwärmt von der Intelligenz der Schwärme. Ach, denkt Poliander, wie das wohl wäre? Schwärmen, auf der Bühne schwärmen sie vom guten Geist des liquid feedback, P. hört’s und hat’s nun trotzdem eilig, Schwärmen, ein Reizwort. Nur weiter! Unterm Mäuseturm winkt einer, Marc Vandoosler? Die charmanten Onliner im Rücken, gehn am Ufer des Rheins schräge Vögel mit ihren Jungen. Und hätte Poliander am Bahnhof nicht jene kluge Bioinformatikerin getroffen, könnte hier niemand lesen, dass dies die Nilgänse sind, die ihre großgepunkteten Kinder statt in den warmen Nil nun auch ins laue Rheinwasser führen.

Koordinaten: 49° 58′ N, 7° 54′ O, Neumond, 1001 Piraten wurden am 15. Mai 2010 um 17:59 Uhr in der alten Wagenhalle Bingen gezählt, ja, Bingen, schönNilgänse

Reisebrief
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