P. im Jüdischen Museum: Die aktuelle Sonderausstellung heißt: Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR. Es geht um eine kleine, vielleicht die kleinste der Minderheiten, die in der DDR lebten, und es geht um einen Teil der deutsch-jüdischen Geschichte, über den wenig gesprochen wurde (und wird). Und es ist ein Teil unserer Geschichte, den viele, auch wenn sie in der DDR lebten, nicht kennen, von dem sie wenig oder nichts wissen.
Wie immer freut P. sich, ins Jüdische Museum zu kommen, zum Beispiel darum, weil viele es besuchen. Die Dauerausstellung ist offensichtlich auch ein dauerhafter Anziehungspunkt geworden. Interesse ist ein kostbares Gut, Interesse für die Menschen, die in diesem Land leben und lebten, für ihr Schicksal, ist vorausgesetzt, damit wir begreifen, was wir füreinander sind: Mitmenschen.
P.s Mitmenschen: P. liest die Namen, setzt die Kopfhörer auf, lauscht den Stimmen in den persönlichen Berichten und Erinnerungsbruchstücken. Das ganz normale Leben, unser ganz normales Leben, das nahe nebeneinander her lief, und doch unterschied uns etwas: Waren wir Nachfahren der Täter, waren wir es nicht? Und wussten wir, eben die Nachfahren dieser Täter, davon, wollten wir davon wissen?
Eine von P.s prägenden Erinnerungen, damals auf dem Dorf: Als Kind fragte P., wo denn die Juden in K. gelebt hätten, wer sie waren, was aus ihnen geworden sei. Und die Erwachsenen anworteten, in K. habe es keine Juden gegeben. Selbst als Kind spürte P., wusste sogar, dass das gelogen war. Das bedeutet: Wer „die Anderen“ sind oder sein sollen, das lernen wir auch durch das Schweigen über sie.
Dabei, während P. durch die Ausstellung geht, erkennt sie, wie viele dieser Menschen sie kannte, zumeist nicht persönlich, aber ihre Namen, ihre Musik, ihre Literatur, ihre Malerei. Grundig, Heym, Brasch, besonders aber Lin Jaldati und Jalda Rebling, deren Lieder P. beeindruckten… Und dann erinnert sich P. auch an diejenigen, denen sie persönlich begegnet ist, bisweilen vertraut. Wir teilten das normale Leben, Nachbarschaft, Freundschaft. Dass das selten und besonders war, verstand P. erst im Nachhinein. P. kannte keine Zahlen, P. kannte Menschen.
Aber etwas, auch im Nachhinein, war schwierig, und das war nicht das Thema Religion, denn die war in der DDR ohnehin etwas Heikles, das man gewohnheitsmäßig nicht mit jedem besprach. Das Schwierige waren familiäre Zusammenhänge, dieses: Wie, du hast Verwandte in Israel? Denn die hatten wirklich nur wenige, und der Staat DDR tat alles, dass dieses Land uns fremd war, fremd sein und bleiben sollte. Nicht nur, dass man dort nicht hinreisen konnte – auch daran waren wir gewöhnt, dass man die meisten Länder der Welt nur mit dem Finger auf der Landkarte bereisen durfte -, sondern: Die „Israelkritik“, gemeint ist eine „antizionistische“, sprich: antisemitische Haltung gegenüber dem Staat Israel, war in der DDR Staatsräson. Und getarnt als „Imperialismuskritik“ stellte der Staat DDR ausgerechnet Israel als eines der am meisten „imperialistischen“ Länder dar (was immer das bedeuten sollte). Damit ist auch P. aufgewachsen. Und noch viel seltener wurde die Frage gestellt, was denn der Familie des jüdischen Gegenübers geschehen sei. Angst vor der Antwort, Angst, den Lebenden, Überlebenden im wirklichen Leben zu begegnen.
Jüdinnen und Juden, die nach dem Ende des NS-Staates aus dem Exil in die sowjetische Besatzungszone, später die DDR zurückkehrten, taten dies oft deshalb, weil sie selbst kommunistische Hoffnungen in sich trugen, darunter die, dass das nun endlich „ein anderes Land“ werde, anders nämlich als der Verfolgerstaat, vor dem sie sich knapp gerettet hatten. Doch in der Folge des „Slánský-Prozesses“ flohen nicht wenige dann doch nach West-Berlin, in den Westen überhaupt. Denn im Slánský-Prozess waren Funktionäre der KP aufgrund antisemitischer Verschwörungsideologien verfolgt, inhaftiert und hingerichtet worden. Und Jüdinnen und Juden in der DDR befürchteten aufgrund bereits erlebter Repressionen – zu Recht! – ebenfalls Diskriminierung und Verfolgung.
P. ist sicher, davon noch während der Existenz der DDR gehört zu haben. Nur wo? Wahrscheinlich heißt die Antwort: Westradio. Genauer bekommt es P. heute nicht mehr heraus. Und Fakt ist – was in der Ausstellung nur ansatzweise deutlich wird – dass ausgerechnet Menschen, die gern an einen humanen Kommunismus glauben wollten, dann zu denen gehörten, die vom realsozialistischen Staat verdächtigt, observiert, beschuldigt, verfolgt wurden. So geschah es auch dem nichtjüdischen Kommunisten und Politiker in der DDR Paul Merker, der Entschädigungen für jüdische Verfolgte des NS-Regimes gefordert hatte.
Eine große Stärke der Ausstellung ist, dass sie viel über den Alltag erzählt, darüber, was Jüdischsein in der DDR bedeutete, was die kleinen Gemeinden zusammenhielt und mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen hatten. Neugier, Interesse leitet auf dem Weg von Menschen zu Menschen. Die Ausstellung lenkt den Blick auf die einzelnen Menschen, auf ihr ganz konkretes Leben. Die Stimmen und Erinnerungsstücke in der Ausstellung strahlen vor Lebendigkeit, und P. erinnert sich an Menschen und Begegnungen, die sie fast vergessen hatte. Nachfragen, sich interessieren, so werden Menschen nah.
Wer weiter nachfragen will, lese das historisch und politisch so interessante wie brisante Buch Juden in der DDR. Jüdisch sein zwischen Anpassung, Dissdenz, Illusionen und Repression. Es beantwortet viele Fragen, die in der Ausstellung im Jüdischen Museum offen bleiben. Das von Anetta Kahane und Martin Jander herausgegebene Buch, das bereits zwei Jahre vor der aktuellen Ausstellung erschien, erzählt mehr darüber, was Jüdischsein in der DDR politisch bedeutete – für diejenigen, die sich meist bewusst für ein Leben im aufzubauenden Sozialismus entschieden hatten. Das ist für alle, die politische Einordnung suchen, überaus aufschlussreich.
P.s Empfehlung: Hingehen!
P.s warme Empfehlung: Lesen!
Und wie immer, so auch diesmal, führt die Geschichte in die Gegenwart.
Weil es in diesen Tagen nahe liegt und weil es not tut, grundsätzlich zu werden, zitiert P. hier auch die 102-jährige Margot Friedländer. Margot Friedländer sagt: Seid Menschen. Wenn ihr Menschen seid, könnt ihr keine Antisemiten sein. Respektiert Menschen. Wir sind alle gleich.
Koordinaten: Jüdisches Museum. Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR. Noch bis zum 14. Januar 2024 im Jüdischen Museum Berlin. Anetta Kahane, Martin Jander: Juden in der DDR. Jüdisch sein zwischen Anpassung, Dissdenz, Illusionen und Repression. Leipzig: Hentrich und Hentrich 2021.