Kranz oder Krone: seit drei Monaten nichts in dieser Rubrik geschrieben.
Kranz oder Krone: Seit beinahe zwei Jahren halten wir sorgsam Abstand zwischen uns und den anderen. Wir schützen uns, wir schützen sie. Und umgekehrt.
Kranz und Krone: Als es losging, diese Kranz-Krone-Sache, wies eine Frau Poliander zurecht. P. nämlich hatte gesagt, dass wir Menschen in Herden leben. Die Frau sprach: „Ich bin kein Herdenmensch!“
Das Wort Herde enthält von Natur aus keine Bewertung. Viele Tiere leben in Herden. Herde ist ein Begriff aus der Zoologie. Er steht für eine Gruppe gleichartiger Tiere, meist Säugetiere und große Vögel, oft sind es Tiere, die sich überwiegend oder ausschließlich von Pflanzen ernähren. Diese Gruppen haben eine soziale Struktur, manche beziehen sich in ihrer sozialen Struktur auf ein Leittier, andere sind eher lose organisiert. Ihre Selbstorganisation in einer sozialen Struktur hilft den Tieren, beispielsweise Huftieren, sich vor Beutegreifern zu schützen. Oder, beispielsweise bei Pinguinen, hilft das Herdenverhalten, bei kalten Witterungsbedingungen die Körperwärme zu bewahren. Und so weiter.
Auch Pflanzen sind gern gesellig.
Menschen?
Wer in einer Großstadt lebt, kann dem Kontakt zu anderen Menschen ganz sicher nicht ausweichen. Wir kommen einander nahe. Wenn es zuviel wird, ziehen wir uns vielleicht zurück, oft fahren wir dafür extra aufs Land oder, wie P. das gern tut, auf eine Insel. Doch schon auf dem Weg zur Insel und dort erst recht und umso mehr, je länger wir bleiben, sind wir aufeinander angewiesen. Wenn wir sagen: Ich brauch mal Abstand, dann weil es eben nicht selbstverständlich ist, dauerhaft auf Abstand zu leben. Abstand kann gut und hilfreich sein. Zugleich kennen, mögen, lieben fast alle von uns Menschen, zu denen sie allenfalls zeitweilig ein wenig Abstand halten möchten. Und dann wieder zurück kommen in die vielleicht kleine, aber so gut wie immer vorhandene Gruppe von Kolleginnen, Freunden, Gleichgesinnten, zurück in den Gesprächszusammenhang, zurück zu den Menschen, mit denen man für ein paar Stunden gemeinsam im Kino sitzt, durch eine Ausstellung geht, durch den Wald läuft, zurück zu den Menschen, die ebenfalls ein Brot kaufen oder einen Kaffee trinken wollen. Zurück zu den Geliebten.
Was ist ein Leben ohne Nähe, ohne Berührung? Reicht es aus, ab und zu einen Baum zu umarmen?
Sie verstehen, was Poliander meint. Oder etwa nicht?
Kranz oder Krone: Kinder waren solidarisch, als es hieß, Oma und Opa würden sterben, wenn sie sich nicht zurückhielten. Und was für eine Last für sie, dass es ihnen so gesagt wurde! Und nun, wie sollen sie jemals wieder normal zur Schule gehen, wie sollen sie herausfinden, wie sie leben wollen, wenn wir Erwachsenen nicht solidarisch sind?
Kranz oder Krone: Poliander liest viel. P. fühlt sich nicht schlecht informiert. Natürlich, ein bisschen Mühe machen darf man sich schon, wenn es um die eigene Haltung geht, die man entwickeln möchte, um die eigene Entscheidung, die man finden muss. Über „die Medien“ zu schimpfen, ohne einen Unterschied zwischen einzelnen Medien auch nur zu erwägen, und dann obskuren Websites zu glauben, das findet P. unredlich. „Die Medien“ gibt es nicht. Jede, auch die beste, auch die schludrigste Website ist ein Medium, genauso wie die Knallblättchen mit Promireport, genauso wie die von gut ausgebildeten Journalistinnen und Journalisten gemachten Zeitungen mit ordentlich recherchiertem Wissenschaftsteil es sind. Lesen Sie den Wissenschaftsteil!
Wer den Begriff Herdenimmunität nicht mag, kann auch Community Immunity sagen.
Fragen Sie Ihre Hausärztin!
Kranz oder Krone: Wir, Poliander und Gramann, sind eine sehr kleine Herde, wir können auch ich sagen. Ich kann lange argumentieren. Vieles, was ich denke, manches, was ich weiß, hat eine andere schon einmal formuliert. Vielleicht kann ich es dann anders, aber nicht unbedingt besser oder kürzer sagen. In diesem Fall – also dem SARS-CoV-2-Virus und der Frage, wie wir uns als Gruppe von Individuen dazu verhalten, – war das Luisa Francia, die mit ihrer Meinung selten hinterm Berg hält. Diesmal finde ich Luisa Francias Meinung überaus lesenswert: www.salamandra.de Es geht um den Tagebucheintrag von heute, 24. November 2021, früh um 6 Uhr und 8 Minuten.*
Kranz oder Krone: Es gibt einen Weg aus der Krise. Viele Menschen sind ihn gegangen oder gehen ihn gerade jetzt.
Vor ein paar Tagen lief P. über einen Strand an der Ostsee. Das Meer war hell, an manchen Stellen glatt wie ein Spiegel, die Wellen platschten leise, winzige Steinchen rollten und raschelten. P. war nicht allein da, sondern gemeinsam mit dem Gefährten in einem Bus gekommen, in dem sie fast die ganze Zeit die einzigen Fahrgäste waren. Viel Landschaft unterwegs. Viele Menschen dann gingen über den Strand, freundlicher Abstand, freundliche Nähe. Hund kam gelaufen, schubste P. sanft gegens Bein, fremder Mensch entschuldigte sich. Es macht nichts aus, sagte P. Alle gingen weiter. Es war in Schleswig-Holstein. Da drüben, das ist schon Mecklenburg, sagte der Gefährte und deutete auf jene verblaute und ein wenig graue Küste. Dort stand ein kleiner Regenbogen, der nach oben in einer Wolke verschwand. Spätnachmittagssonnenwolkenlicht. Kein Foto, nur schauen. Und als wir zurückfuhren, fragte die Busfahrerin: Und, wie war’s?
Wie wollen wir leben? Mit oder ohne Kontakt, mit oder ohne Kultur, mit oder ohne öffentliches Leben? Mit oder ohne Solidarität?
Koordinaten: November 2021
Covid-Zahlen: 5.430.911 bestätigte Fälle (Zahl laut täglichem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 23. November 2021), davon ca. 651.500 aktive Fälle. Genesene: ca. 4.680.000 (vom RKI geschätzter Wert zum gleichen Datum). Einmal geimpft: 58.697.074, zweimal geimpft: 56.570.199, dreimal geimpft: 6.106.025 (alle drei Zahlen laut Lagebericht vom gleichen Datum).
Covid-Wissen: Reportage aus der FAZ über eine Nacht auf einer Intensivstation im Darmstädter Krankenhaus, auf der Menschen mit schweren Verläufen behandelt werden: „Auf der Endstation„.
* Einzelne Einträge auf www.salamandra.de, so auch derjenige vom 24. 11. 2021, können leider nicht direkt verlinkt werden. Der tagesaktuelle Eintrag befindet sich stets oben auf der Seite, wird aber nach unten wandern. Das muss die Leserin dann gegebenenfalls auch tun.