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Kranz oder Krone (70) – sie springt nicht zurück

01.04.2021 · poliander

Die Sonne eilt über den Himmel. Sie kreist mit 220 Kilometern in der Sekunde um das Zentrum der Milchstraße.

Am letzten Sonntag hörte P. die Stimme im Radio sagen:
In Deutschland gilt wieder die mitteleuropäische Sommerzeit. In der Nacht wurde die Uhr um eine Stunde vorgestellt. In der Folge geht die Sonne nun morgens später auf, während es abends länger hell bleibt.*

P. glaubte zu träumen. Wie war das am letzten Märzsonntag vor einem Jahr? (O nein, nicht, was Sie denken. Zu Hause sind wir immer noch. Aber wir haben seitdem noch ein paar andere Bücher gelesen.)

Also, was sagte die Stimme da? Und geht die Sonne später auf?
Nein, die Uhr zeigt nur früher drei Viertel sieben, Ihr Lieben.
Fragen Sie einen Klassiker, fragen Sie den Klassiker an sich.

Der Klassiker antwortet nicht, er delegiert das Wort. In seiner Anmaßung delegiert er es an einen Engel, den Erzengel Raphael. Der Engel spricht:

Die Sonne tönt, nach alter Weise,
In Brudersphären Wettgesang,
Und ihre vorgeschriebne Reise
Vollendet sie mit Donnergang.
Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke,
Wenn keiner sie ergründen mag;
die unbegreiflich hohen Werke
Sind herrlich wie am ersten Tag.
**

Sie tönt? Fast vergessen, oder? Suchmaschinen Sie doch „Sonne“ plus „Frequenz“. Dass der Klassiker das wusste! Aber darauf kommt es hier gar nicht an, sondern darauf, dass sie auf eine vorgeschriebne Reise geht. Stimmt nämlich. (Gut, mit Donnergang hat er eindeutig übertrieben. Jedenfalls wenn wir aus der Ferne von beinahe 150 Millionen Kilometern lauschen.)

Was P. sagen wollte: Die Sonne verspätet sich nicht. Sie springt keine Stunde vor, sie bleibt keine Stunde stehn. (Wenigstens nicht in den nächsten fünf Jahrmilliarden. Sehr, sehr wahrscheinlich nicht.) Und das heißt auch: Heute ist Gründonnerstag, am Sonntag ist Ostern. Auch in diesem Jahr wieder so große Hoffnung. Egal, woran Sie glauben. Den Frühling leugnet niemand. P. sah bereits einen kleinen Fuchs, einen Zitronenfalter und einen anderen Schmetterling, der zu schnell weg war, als dass P. ihn erkannt hätte. Ein Schmetterling, bedeutet das nicht: eine Seele? Und wer kann schon behaupten, einen Schmetterling erkannt zu haben?

Du sollst doch nicht traurig sein, sagt Poliander.

Denn C. ist nicht das einzige Thema im Weltall.

P., Gramann und der Gefährte des mittäglichen Kaffetrinkens in der grellen Frühlingssonne wünschen Ihnen, dass es auch in Ihrem Leben mehr Themen gibt. Die Gesichter sind dabei ganz rot von der letzten Märzen- und ersten Aprilsonne, die schon Kraft hat, die ihre Kraft stärker auf uns abstrahlt, weil sie, von unseren Breiten aus gesehen, schon höher steht.

Und wir wünschen Ihnen, Euch und allen, dass die Pflanzen auf dem Balkon, die Blumen im Garten, die Bäume unten in der Straße, dass alle, alle den letzten fiesen Wintereinbruch von minus zehn und mehr Grad überstanden haben. Wir wünschen Ihnen einen grünenden, blühenden Frühling, schöne Sonne und viel vom milden Regen.

Und für alle, die damals wie wir die Worte des Klassikers auswendig hersagen mussten, ob in der Schule oder beim ostersonntagnachmittäglichen Spaziergang, und dann auch für alle, die diese Worte niemals auswendig lernen mussten oder die sie einfach nicht auswendig gelernt haben, also insgesamt überhaupt für alle, für Sie, Leserinnen und Leser, hier die verheißungsvollen Worte:

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dorther sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer kornigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt’s im Revier
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurückzusehen.
Aus dem hohlen finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluß, in Breit und Länge
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und bis zum Sinken überladen
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!
***

Die Sonne ist, was immer weiter reist. Wir reisen mit. Die Zeit wartet nicht. Die Zeit bringt uns näher zu jenem Augenblick, da wir wieder und gemeinsam… Ja. Genau. Es wird so sein.

Koordinaten: 2.808.873 (Zahl laut täglichem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 31. März 2021). Genesene: ca.2.521.800 (vom RKI geschätzter Wert zum gleichen Datum). Einmal geimpft: 9.428.662, zweimal geimpft: 4.059.489 (beide Zahlen ebenfalls laut dem Lagebericht vom 31. März 2021).
* Nachrichten des DLF am 28. März 2021, 8 Uhr.
** Goethe, Faust. Eine Tragödie. Prolog im Himmel.
*** Goethe, Faust. Eine Tragödie. Vor dem Tor.
Soundtrack: Time Waits For No One (ja doch, von den Stones).

Kranz oder Krone · Schönste Stellen