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Kranz oder Krone (20) – Homeoffice mit offenen Fenstern

06.04.2020 · poliander

Endlich ist es warm genug, dass wir an unseren innerhalb der Wohnung entgegengesetzt liegenden Schreibtischen die Fester offen lassen können. Auch das Nordfenster steht stundenlang offen. Nur die Türen sind geschlossen, sonst würde ein kalter Gegenzug durch die Zimmer fegen, alles Lose auf den Boden werfen und Manuskriptseiten unter die Möbel schieben.

Endlich ist es warm genug. Gestern hat P. alle Pflanzen geprüft, umgepflanzt, mit neuer Erde versorgt, altes Laub ausgeputzt, trockene Erde gewässert, den Erdnussvorrat des Eichelhähers oben auf die Erde gelegt, bereit zur Abholung. Noch war der Häher nicht da.

Endlich ist es warm genug, die Heizung abzudrehen, tagsüber zumindest und wenn die Sonne ins Zimmer scheint.

Blick aus dem Fenster: Mehrere Insekten sind im Bild.

Das Virus Corona, las P. irgendwo, bringe eine merkwürdige Konzentration auf das Kleine mit sich, auf die Pflänzchen, die Vögelchen, die Hummelchen… Ja und? Wo wäre der Nachteil?

Clematis, bereits ausschnitthaft.

Eine Biene fängt sich auf der inneren Fensterseite. Mit Geduld und einem Behördenbrief bringt P. sie auf den Weg in die Freiheit. Keine Energievergeudung im Kampf gegen die gläserne Decke!

Geräusch 1: echte Bauarbeiten.
Geräusch 2: tagsüber Gezwitscher, abends Amselvortrag.
Geräusch 3: Radio auch anderswo.

Eine gewisse Müdigkeit tritt unweigerlich ein, wenn die Außentemperatur die bevorzugte Zimmertemperatur beim Arbeiten überschreitet. P. schreibt gern kühl. Es ist aber unmöglich, in den ersten warmen Tagen das Fenster zu schließen, um die Luft kühl zu halten.

Die Frage, ob man über Bienen, Zimmertemperaturen und Schreibgewohnheiten schreiben darf, während gleichzeitig Covid Nr. 19 weltweit aktiv ist, stellt P. nicht mehr. Bienen, Zimmertemperaturen und ganz bestimmt auch Schreibgewohnheiten sind aus Umweltperspektive relevant.

Über die Frage, welche Grundrechtseinschränkungen mit Gründen sinnvoll sind, wie lange sie dauern dürfen und wie sie sich in einer Demokratie auswirken, denkt P. jeden Tag nach und spricht mit Leuten. Manchen ging’s nicht schnell genug, als ein Bundesland nach dem andren Entschiedungen suchte, fand, mit andern abglich, anpasste oder auch nicht. Und so weiter. P. lebte einmal in einem Land, in dem Entscheidungen verkündet und rigide umgesetzt wurden. Kritik, Diskussion, vergleichsweise Langsamkeit gfällt P. meistens besser, immer eigentlich. Viele haben sich bei dieser Covid-Nr. 19-Sache schon freiwillig und frühzeitig an das für richtige Erkannte gehalten. In diesem Fall Abstand.

Der durch Entscheidung und Vernunft erwirkte Abstand bringt hervor, dass P. Nähe neu schätzt. Damit meint P. die Erkenntnis, dass wir soziale Tiere sind. Nicht so wie die Bienen, aber immerhin.

Nähe, ein großes Thema. Von Abstand zu Nähe und wieder zurück. Einander so nahe kommen, dass es warm genug, aber nicht zu warm ist. Ist das jetzt trivial? Einander nur so nahe kommen, dass keine Gefahr entsteht. Auf eine Art gilt das doch immer, Respekt, oder etwa nicht? Respekt für das sehr Kleine, Unsichtbare, mit bloßem Auge Unsichtbare, Respekt vor dem kleinen Volk, zu dem Viren gehören. Unwissenschaftlich? Nein: Abstand ist eine Form von Respekt.

Endlich ist es warm genug, dass nicht nur die Hummeln, sondern auch die Bienen täglich ausfliegen, das erlebt P. jedes Jahr neu und jedesmal neu Aufmerksamkeit für das Kleine. Vor einigen Tagen sah P. unterwegs, in einer etwas schmuddelig wirkenden Ecke mit einigen kleinen Flecken nackter Erde den Hinweis: “Vorsicht Wildbienen!” Eine Warnung vor Wildbienen war das nicht, sondern die Warnung, nicht auf ihre Behausungen, die hinter kleinen röhrenförmigen Löchern in der Erde liegen, zu treten. Wildbienen stechen nicht, höchstens im absoluten Notfall. Wissen das nicht längst alle? Ach, P. sagt es nochmal.

Erst Geräusch, dann Blick aus dem Fenster: Drunten parkt ein Lieferwagen, einnen Moment freundlicher Hip-hop, jemand schaltet den aus, fetten Rap ein, Tür steht offen. Für jetzt: Fenster zu.

Bis morgen, Ihr lieben Leser!nnen.

Koordinaten: 95.391 (Zahl laut RKI vom Zeitpunkt 6. April 2020, 0 Uhr, online aktualisiert um 8:05 Uhr)

Kranz oder Krone