Polianders Zeitreisen

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Kranz oder Krone (79) – Sommer, verloren, gefunden, Ende offen

17.08.2021 · poliander

Auch der Sommer verschwand,
Als hätt’s ihn nie gegeben.
Sonne wärmt noch den Sand.
Aber das ist zuwenig.

(Arseni Tarkowski)***

Aber es gab ihn doch, diesen Sommer, es gibt ihn noch, wenn auch nicht grad heute. Jedes Jahr gibt es ihn, den Tag, den Augenblick, in dem P. dieses Gedicht in den Ohren klingt. Das ist P.s Sommertag, und P. will auch nie mehr behaupten, keine Lyrikleserin zu sein.

Was in diesem Sommer war: ein paar Augenblicke des Zusammenseins, kein Grund zu elegischer Stimmung. Zum Beispiel mit Freundinnen oder Freunden, zum Beispiel draußen, zum Beispiel drinnen. Im Haus der Statistik zum Beispiel, Sie fahren ein paar Stationen mit der U-Bahn, Alexanderplatz. Normalerweise haben Sie da nicht soviel verloren. Diesmal schon: LOST AND FOUND. Gehen Sie einfach der Ausschilderung nach, Ausgang Karl-Marx-Allee. Das Haus der Statistik finden Sie an der Karl-Marx-Allee 1. Das ist schon ein anderes Berlin, von dem das Haus geblieben ist, aber P. war dort auch früher nicht zu Hause. P. war in einer Mietskaserne zu Hause, damals im anderen Berlin. Karl-Marx-Allee 1, eine entkernte Neubau-Ruine. Aber in Berlin ist bekanntlich noch jeder alte Neubau zu etwas zu gebrauchen. (Gut, fast jeder. Ein paar gab es, die jetzt weg sind, die vermisst P. schon.)

Jetzt ein Projekt, kann man sagen, ein Konzept, eine Pioniernutzung. Neues Wort, Pioniernutzung, aber schön.

Die Redaktion von Prolog – Heft für Text und Zeichnung hat hier einen Raum genutzt, vom 4. bis zum 14. August 2021, zehn Tage im Sommer. P. ging hin. Bilder waren zu sehen, Texte zu hören, Film gab es auch. Ja, Sie haben was verpasst. Vor allem: endlich wieder was mit anderen zu machen und nicht alle vorher schon zu kennen. Das ist es, was dieser Eintrag mit C. zu tun hat: nicht allein bleiben, nicht zu zwein bleiben, etwas zu tun, was seit eineinhalb Jahren die Ausnahme ist, auch wenn’s mal Gewohnheit und die Regel war.

Zehn Tage, und jeden Abend hielten Dorit Trebeljahr und Anton Schwarzbach, die das hier organisiert haben, eine Rede. P. war zweimal dabei, es war herzlich und unkompliziert, und es war möglich. Gute Nachrichten, neue Bilder, erfreuliche Geschichten, die können wir grad alle gebrauchen. Nicht weil der Himmel so blau ist darin, sondern weil neue Geschichten mehr sind als nur sofort, weil sie mit der Lust kommen, noch mehr zu erfahren. Es sollte möglich sein. Und Leute, Mensch: Leute!

Provisorische Räume sind die Übergangswohnungen der Kunst. Und P. findet gern etwas, wovon sie nicht wusste, dass sie es verloren hatte.

Was ich wollte, gelang,
Leicht, wie Blätter sich legen
Fünfgezackt in die Hand.
Aber das ist zuwenig.
***

Fast vergessen, wie das ist, an mehr Abenden der Woche unterwegs zu sein als am eignen Schreibtisch. Was ist der Plan? Der Plan für den Ort ist offen. Den persönlichen Plan macht sich jede selbst, C. zum Trotz, und auch wenn manche sagen, mehr als drei Wochen vorausdenken, das ginge gar nicht, nicht mit diesem C., doch, es muss gehn. Denn Pläne kann man ändern.

Gutes, Böses verschwand,
Nichts geschah mir vergebens,
Alles hat hell gebrannt.
Aber das ist zuwenig.
***

Eine Zwischenbilanz ist nicht das letzte Wort, das gesprochen wurde. Arseni Tarkowski, für P. ist das ein Sommername, ein Sommergedicht, auch wenn’s nicht so gemeint sein sollte. Wer weiß schon, was Menschen über ihr Geschriebenes meinen? Da kann man viel erzählen und viel beschweigen.

Oder einfach mal zuhören, zusehen, die gefaltete Zeichnungsreihe anschauen, die ungebetenen Briefe lesen, das große Plakat, die Fotos dieser Journalseiten und so weiter, alles ansehen und denken: Wär ich nicht dagegewesen, ich hätt was verpasst. Zuschauen, wie der große grüne Kaktus (bitte schauen Sie oben noch mal – danke!) seine Stacheln verliert, sie abgezupft bekommt, wie er auseinandergebaut wird. Der Kaktus.* Kunst sehen, die noch nicht in der Gemäldegalerie hängt, über die es noch keine offizielle Meinung gibt, über die P. bei sich selbst die erste und bei Zufallsbekanntschaften die zweite Meinung einholt. Ja.

Solche Nachberichte, das macht P. doch sonst nicht, und hier schon zum zweiten Mal? Stimmt. Aber P. hatte was verloren, viel, und das konnte P. selbst auf den schönsten Einzelabstandsspaziergängen nicht finden, und die waren wirklich schön, jeder einzelne in diesem ganzen langen Anderthalbjahr, und P. denkt auch sehr gern und froh an die Mitspaziergängerinnen.

Meditativ und diskursiv, sagt P., ganz schöner Dualismus, wirklich schön. Aber doch nicht, weil ein C. es erzwingt! Und als das Anderthalbjahr rum war, ging P. zu LOST AND FOUND, hörte was zu, sah was an, las was vor, trank was Bier. “Haus der Statistik”, nie gehört vorher und früher immer übersehn. Karl-Marx-Allee, nie so ganz mein Einzugsbereich, sagte P., und P. sagt jetzt: Was für ein freundlicher Ort, was für freundliche Menschen. Halleluja, Kolleg!nnen! Haben Sie was verpasst? Macht nichts, macht was, aber ist kein Grund zu elegischer Stimmung. Lesen Sie doch einfach mal so ein Heft. Die Hefte sind auch wie eine Ausstellung, mit Kunst, die – .

Für jetzt, für gleich können Sie mit P. den Rest von Tarkowskis Gedicht lesen. Und dann lesen Sie es noch einmal extra, lesen Sie es ganz, halblaut oder laut:

Seine schützende Hand
Über mich hielt das Leben,
Hab das Glück gut gekannt.
Aber das ist zuwenig.

Und kein Blatt ist verbrannt,
Und kein Ast brach, und Regen
Hat der Tag mir gesandt.
Aber das ist zuwenig.

Und gehn Sie raus, finden Sie was. Und ach was!, Wetter.


Koordinaten: Dorit Trebeljahr, Anton Schwarzbach. Prolog – Heft für Zeichnung und Text. Berlin, Karl-Marx-Allee. 52° 31′ 22,1” N, 13° 25′ 5,9” O
Covid-Zahlen: 3.827.051 (Zahl laut täglichem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 17. August 2021). Genesene: ca. 3.684.700 (vom RKI geschätzter Wert zum gleichen Datum). Einmal geimpft: 52.583.655, zweimal geimpft: 47.603.282 (beide Zahlen laut Lagebericht vom gleichen Datum)

* “Die Welt ist ein Kaktus”: Kaktus von Christine Kriegerowski
** Alle Fotos: Klaus Meyer-Gramann
*** Kursiv gesetzt: Auch der Sommer verschwand von Arseni Tarkowski, übertragen von Katja Lebedewa, erschienen in Poesiealbum 256. Quelle im Internet: Planet Lyrik, an dieser Stelle und versehen mit Erläuterungen, Zitaten, Erinnerungen.

Schönste Stellen

LOST AND FOUND

19.07.2021 · poliander

Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Sie sind, Ihr seid herzlich eingeladen zu

LOST and FOUND. Sommerfestival von und mit Prolog – Heft für Zeichnung und Text

Gezeigt und gelesen werden Arbeiten von 65 Künstler*nnen und Autor*nnen
der in den Lockdowns erschienenen Prolog-Ausgaben ABSAGE, Struktur(en) Differenz(en), NACHT//SCHATTEN

AUSSTELLUNG
4. bis zum 14. August 2021, täglich von 16 bis 21 oder bis zum Ende der Veranstaltungen

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Buchstabenfracht

Füße in Steinen, Herz in Wellen

23.06.2021 · poliander

Die Sonne stand im Westen, aber noch nicht tief. Zwischen Strandweg und Meer lagen faustgroße Steine dicht an dicht. Die rollenden Steine setzten sich fort bis ins Meer.

Es roch nach Ostsee, aber nicht so intensiv wie da oben, am Gammendorfer Strand, wo Algen im Wasser trieben und bündelweis im Sand lagen. Da hatte P. auf dem mageren Gras gesessen, etwas ab vom Meer, und mit der Linken im Sand gewühlt. Da, etwas Festes, Geformtes, als P. hinsah, war es ein Hartplastiksoldat. Das sollte hier nicht liegen, wo Kinder es finden konnten. Während der Gefährte aus dem Wasser kam, steckte P. den Soldaten in den Rucksack.

Die Sonne stand im Westen, aber noch nicht tief. P. rutschte mit den Füßen zwischen die rollenden Steine. Es war glatt und kalt, man konnte hier nicht Schrittchen für Schrittchen ins Wasser schleichen, um sich langsam an die Kälte zu gewöhnen. Jede Welle schob die Balance weg, zur Seite, nach hinten, nach vorn. In P.s Kopf war noch St. Petri, die Kirche in Landkirchen auf Fehmarn. Erst war die Kirche gewesen, später der Ort, weswegen er Landkirchen geheißen wurde. Grob hingehauene Kirche, astreine Gotik, aber anders. Breit dahockend. Innen jede Menge Barock, aber oben, in einem der Gewölbe barockfreies Mittelalter. Dort ist mit roter Farbe ein Pelikan gezeichnet. Er reißt sich die Brust auf, das Blut tropft in die Schnäbel der Jungen. Schön spricht der Physiologus vom Pelikan. Nein, Schrift ist da keine, alle kannten die Geschichte. “Was macht der Vogel da?”, fragte ein Kind, “Komm jetzt”, antwortete die Mutter.

Der Gefährte hatte das Auto zwischen Getreidefeldern hindurch gelenkt, schmale Straße, breiter Feldrain, dicht bestanden mit Kornblumen, Mohn, Margariten, Ringelblumen. Wann hatten sie zuletzt solche breiten Feldraine gesehen? Es fiel ihnen ein, in Wachendorf, nahe der Feldkapelle, die Bruder Klaus gewidmet ist. Dort blühte Phacelia. Hier hatte jemand alles ausgesät, was noch viel bunter blühte. Alles, was früher von selbst wuchs. Aber Hauptsache, es war da.

Jetzt stand die Sonne im Westen. P. warf sich ins Wasser. Es war nicht so kalt, es war flach an diesem Juninachmittag, die Luft war nicht so warm, die Sonne schon. Anbaden. Schwimmend sah P. vom Wasser zum Strand, wo der Gefährte auf der Bank saß, Sonne im Gesicht. P. sah zwei Menschen übern Strand streifen, die einen offenen Strandkorb suchen. Bald käme die Nacht. Sonne auf dem nassen Gesicht, schwamm P. vorm Ufer hin und her. Anbaden für 2020, abbaden für 2020, anbaden für 2021. Da schwimmt man, bis die Fingerspitzen runzlig sind.

Die Sonne stand im Westen, noch nicht tief. Als P. aus dem Wasser kam, war wenig Halt unter den Füßen. Rollende Steine unter den Fußsohlen, unter den Knien, unterm Handgelenk. Anbaden. Der Kreis hat sich geschlossen. Zurück am Meer, auch wenn es diesmal nur die Ostsee war, immerhin einer der steinigen Flecken, wo man ohne blaue Flecken nicht davonkommt.

Den Hartplastiksoldaten haben wir später, in der Stadt, entsorgt.

Koordinaten: 54° 29′ N, 11° 7′ O. Wer Fotos sehen will, wende sich bitte an Wikipedia.

Augenweide · Begegnung
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Freundliche Einladung zu Lesung und Gespräch

08.06.2021 · poliander

Liebe Leserinnen, liebe Leser,
dies ist die freundliche Einladung ins Kleist-Museum Frankfurt an der Oder:

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Buchstabenfracht
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Kranz oder Krone (78) – einander wieder sehen

07.06.2021 · poliander

Wiedersehen: Menschen, mit denen wir befreundet sind, Menschen, mit denen wir bekannt sind, Menschen, die wir jetzt kennenlernen.

In einem Hinterhof stehen, ungleichmäßiges Pflaster und struppiges Gras unter den Füßen, improvisierte Sitzgelegenheiten, manche setzen sich gleich auf den Boden. Eine freundliche Hand reicht ein Kissen. Manche lehnen an der Wand einer Remise. Nach drinnen gehen, eine Limonade holen, ein paar Bilder ansehen, einen Text lesen. Wieder draußen zwei Menschen einander vorstellen.

Sich etwas, jemandem jemanden vorstellen. Etwas vorstellen. Einen Text. Zum Beispiel.

Sie beginnt, sie hält inne, die Gastgeberin. Sie liest ein Gedicht von Friederike Mayröcker. Friederike Mayröcker starb am letzten Freitag, am 4. Juni 2021. Erinnerungen brechen herein. Le chien c’est moi.* Der Gastgeberin zuhören. Dankbar sein, dass sie, jetzt, hier, an Mayröcker erinnert, dankbar sein, dass alle wissen, wer das war. Vielleicht kennen wir uns nicht, aber wir kennen uns.

Nach einer Weile haben wir den Ort gesehen, uns umgesehen: die alten Schornsteine an der rückseitigen Hausfassade, ein Muster aus Ziegelsteinen. Die Menschen in oft getragenen und oft gewaschenen Kleidern, die schon ganz weich aussehen, die leichten Hosen, die leichten Haare, das bunt bestickte Kleid. Die Remise, die nicht saniert, die Fassade, die nicht renoviert wurde. Wir reden ein bisschen, die anderen reden auch ein bisschen. So viel Gespräch, so viel Unterbrechungen, sind wir noch daran gewöhnt? Wir setzen uns irgendwohin, eine liest, einer, wir anderen hören zu, wir lesen selbst. Ich habe nicht vergessen, wie man ein Mikrofon hält. Ich habe vergessen, wie ich praktischerweise umblättern kann, während ich in einer Hand das Buch, in der anderen das Mikro halte. Ich bin ungeschickt, ich unterbreche, ich entschuldige mich. Ich lese trotzdem. Ich sage danke, als die anderen klatschen. Ich verschlucke das Wort Verhängnis, obwohl es da hingehört, an diesen Ort, an dem ich das Lesen abbreche, in diese Zeile.

Ich fühle mich erschlagen von Worten. Es war keine große Dosis.

Einander wiedersehen, einander wieder sehen. Wir gehen langsam mit unseren von Zeitschriftenexemplaren beschwerten Rucksäcken. Wir reden zum zweiten Mal in weniger als einer Woche mit der guten Freundin. Wie lang haben wir uns nicht gesehen, dann: uns nicht oft gesehen. Da ist ein Lokal, wir setzen uns einfach und bestellen Essen und Getränke. Nach mehr als einem Jahr essen wir von Porzellantellern, obwohl wir jetzt gerade nicht zu Hause sind. Wir legen die Melonenschale, die vom Schnitz übrigblieb, der am Cocktailglas klemmte, auf einen eigens dafür vom Kellner hingestellten kleinen Teller. Auch der Kellner ist glücklich, vielleicht ist er der Chef, wir hören Vergnügen in seiner Stimme. Wir sind da, er ist da, die anderen sind auch da. Würden wir uns beschweren, wenn es jetzt noch länger dauerte mit dem Essen? Überwöge trotzdem die Freude? Wir reden und reden. Die Freude überwiegt. Wir teilen sie.

Die Freude, dass jemand Friederike Mayröcker einen stillen Moment widmete. Dass wir gemeinsam schwiegen. Zuerst hatte ich geschrieben: dass jemand Friederike Mayröckers Tod einen stillen Moment widmete. Aber ist es nicht ihr Leben, dem dieser Moment gewidmet wurde? Ihrem Leben? Ihrer Anwesenheit? Ihrer Arbeit? Ihrer Lebensarbeit, Schreibarbeit. Ihrem Aufenthalt auf Erden. Ich suche nach Worten. Ich ringe. Könnten wir sagen, wir haben uns das gewünscht? Diesen Augenblick, um an Friederike Mayröcker zu denken. Wir können es einfach auch nicht besser sagen als die FAZ. Mayröckers Verse wohnen uns schon im Blut. Wir sehen einander an und bewundern unsere Erinnerung, jede für sich. Sie ist nicht fort.

Dankbarkeit für unsanierte Hinterhöfe.

Koordinaten: Weißensee.
Covid-Zahlen: 3.700.367 (Zahl laut täglichem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 06. Juni 2021). Genesene: ca. 3.538.000 (vom RKI geschätzter Wert zum gleichen Datum). Einmal geimpft: 36.999.375, zweimal geimpft: 17.240.975 (beide Zahlen laut dem Lagebericht vom 5. Juni 2021, RKI-Website zuletzt abgerufen: 6. Juni 2021).
* Text zu einer Zeichnung Friederike Mayröckers.

Kranz oder Krone
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Kranz oder Krone (77) – beharrlich sein. Eine Einladung

31.05.2021 · poliander

Einmal wohnte sie auch auf dem Hinterhof, wie ich. Über ihr übte ein Saxophonist. Das konnte sehr schön sein, war es aber nicht immer. Ein Künstler im Haus, irgendwie gut, irgendwie Hoffnung. Ich besuchte Susanne sehr gern. Sie war geschickt, gestalterisch, einfallsreich, sie nähte alles selbst, gut, letzteres tat ich damals auch. Wer wollte schon aussehen wie aus dem VEB? Wir erlebten einiges, wir kannten uns gut, ich zog über eine Grenze, sie zog, als die Grenze weg war, in andere Bundesländer, wir verloren uns aus den Augen, unsere Wege berührten sich beinahe, mehrmals beinahe, sie fand mich, wir fanden uns wieder.

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Augenweide

Kranz oder Krone (76) – sehen und lesen, sich aufmachen und hingehen

27.05.2021 · poliander

Frisch erschienen: Prolog. Heft für Zeichnung und Text Nr. 22
Thema der aktuellen Nummer: Nacht//Schatten

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Augenweide · Buchstabenfracht
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Kranz oder Krone (75) – Geist

23.05.2021 · poliander

Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.
Johannes 3.8

Der Regen

Auch heute rauschte ein Regen. Auch heute sang die Luft ein Lied. Auch heute pfiffen die Vögel. Und einen Augenblick lang war es auch heute still.

Koordinaten: 23. Mai 2021.
Das Foto ist nicht im Jahr 2021 entstanden.
Covid-Zahlen: 3.648.958 (Zahl laut täglichem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 23. Mai 2021). Genesene: ca. 3.397.100 (vom RKI geschätzter Wert zum gleichen Datum). Einmal geimpft: 33.041.570, zweimal geimpft: 11.343.644 (beide Zahlen laut dem Lagebericht vom 22. Mai 2021, Zahlen zur Anzahl der Impfungen wurden am 23. Mai 2021 nicht aktualisiert, RKI-Website zuletzt abgerufen: 23. Mai).

Erregung · Kranz oder Krone
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Neuer Podcast: Die Dichterin Carla Schwiegk

17.05.2021 · poliander

Liebe Leserinnen,
soeben neu erschienen: Polianders Podcast über die Dichterin Carla Schwiegk, geschrieben und gelesen auf Einladung der BEGiNE. Danke, liebe BEGiNE!

Und darum gehts:

P. hat Carla Schwiegk einige Male schon lesen hören, und oft, wenn auch nicht oft genug hat P. in ihren Gedichten gelesen.

Ein Gedicht: Da stimmt jedes Wort. Es trifft, es fügt sich zu den anderen, es ruft Bilder hervor, heraus, ins Freie.

Carla Schwiegk sagt gern: „Ich bin Buchbinderin.“
„Ich bin Lyrikerin“, sagt sie gar nicht so oft.

Bücher von Hand zu binden ist ihr Handwerk. Papier, Pappe, Textilien, daraus wird ein Buch. Sie schöpft auch Papier, aus Abgetanem, aus altem Zeitungspapier. Papier machen, das ist geduldige Arbeit, naturverwandtes Tun. Einen Stoff auflösen, etwas anderes daraus hervorbringen, die Materie ist ewig, sie wandelt sich nur. Carla Schwiegk wandelt sie.

Ein Text wird geschrieben, ein Text wird gewandelt. Lebenswandel, Textwandel.

Carla Schwiegk schreibt in der Zeitschrift Zündblättchen, in der Nummer 107, die ihren Gedichten und den Zeichnungen von Maja Nagel gewidmet ist:

Lehrstück

Lehre mich, Baum, wie man Eisen frisst,
Kerbholz ist und Hiebe verwächst
oder vom Stumpfe neu austreibt.

Mit einem Baum sprechen, von ihm lernen. Jemand treibt einen Nagel in die Baumrinde. Er verrostet, verwittert, und schließlich verschlingt ihn das Fleisch des Baums, das Holz. Manche glauben, ein Baum stirbt, wenn man einen Nagel hineinschlägt. Das stimmt nicht, diese großen, intelligenten Pflanzen halten viel aus. Sie integrieren sogar Metall. Das lernen, Erlebtes integrieren, Wunden verwachsen, neu treiben. Mit Härten leben.

So fängt es an, so geht es weiter.

Das Wort Gedicht kommt von dichten, das hieß einmal: dem Schreiber in die Feder sagen, und das bedeutete: etwas für die Niederschrift verfassen. Einst war das Wort auch ein Adjektiv: gedicht, das bedeutete im Mittelhochdeutschen: dicht. Jedes Zuviel ist fortgetan. Was bleibt, ist Substanz. Gelingt es, wird das Dichte wie durch Wunder transparent. In Carlas Lehrstück heißt das:

Abwerfen. Zeige mir, wie das geht,
wie man denn, ohne ein Blatt, nur
mit dürren Reisern den Wind beschreibt.

Kein Wort zu viel.
Abwerfen.
Den Wind beschreiben. Das kann heißen: über den Wind zu schreiben. Und er, der Wind, kann ein Beschreibgrund sein, einer aus dem, einer, auf dem man schreibt. Ja, ein Baum kann das, mit seinen Zweigen, den belaubten und den unbelaubten. Wie sie sich biegen im Wind, beschreiben sie ihn. Den Wind.

Aber dicht bedeutet auch: nahe. Carla Schwiegks Gedichte kommen nahe an die Leserin heran. An P. An mich…

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Begegnung · Buchstabenfracht
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Kranz oder Krone (74) – lesen, was sonst?

10.05.2021 · poliander

Wetter: wechselt.

Gesellschaftlicher Zustand: hält an.

Bäume: welche die letzten Trockenjahre überlebt haben, ergrünen.

Zeit: Nachdem P. das Beethoven-Jahr ohne nennenswerte Rückschläge der Erinnerung überstanden hat, erinnert P. sich im Beuys-Jahr an den glücklichen Augenblick, in dem die Stadtbibliothek in Berlin-HauptstadtderDDR Zeichnungen von Joseph Beuys ausstellte.

Anderer Augenblick in der Erinnerung: derjenige, als die Stadtbibliothek in Berlin-HauptstadtderDDR Manuskriptblätter von Franz Fühmann ausstellte. Diese maschinenschriftlichen Blätter, immer wieder von Hand korrigiert, zerschnitten, neu zusammengesetzt, geklebt, überklebt, zerschnitten, korrigiert, durch andere Manuskriptabschnitte ergänzt, reduziert, vervollständigt und so weiter und so fort, soll Fühmann selbst “Bretter” genannt haben. Manche waren fingerdick. Das Arbeiten am Text, wie die Fühmann’schen Bretter es demonstrieren: ein dauernder Prozess aus Erschaffung und Überschreibung.

Beispiel: Pavlos Papierbuch, Erzählung von Franz Fühmann. Hier in der Ausgabe der edition schwarzdruck aus dem Jahr 1995.

Heutiges Datum: 10. Mai 2021.

Bedeutung: Tag des freien Buches.

Geräusch drinnen: Waschmaschine.

Geräusch draußen: Autoreifen auf Pflaster, Vogelstimmen (Sperlinge).

Gesellschaftlicher Zustand: verbesserungswürdig.

Was tun? Lesen.

Zeit: vorhanden.

Liebe Leserin, lieber Leser,
lassen Sie sich etwas vorlesen: Franz Fühmann liest Pavlos Papierbuch.
Herzlich grüßt
Ihre P.

Koordinaten: 10. Mai, ein Gedenktag.
Covid-Zahlen: 3.520.329 (Zahl laut täglichem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 9. Mai 2021). Genesene: ca. 3.159.200 (vom RKI geschätzter Wert zum gleichen Datum). Einmal geimpft: 26.836.612, zweimal geimpft: 7.572.228 (beide Zahlen laut dem Lagebericht vom 8. Mai 2021, Zahlen zur Anzahl der Impfungen wurden am 9. Mai 2021 nicht aktualisiert, RKI-Website zuletzt abgerufen: 10. Mai).

Kranz oder Krone
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