Überraschend blühten die Korallenärmchen der Leseblume auf:
Überraschend fand sich die Lösung: Die Blume ist eine Jatropha-Art, die wiederum zu den Wolfsmilchgewächsen, den Euphorbien, gehört. Davon gibt es viele, die alle unterschiedlich aussehen. Oder, wie ein gestandener Botaniker P. einst vermittelte: Was man nicht bestimmen kann, sieht man als Euphorbia an. Hier hat sich’s, wie es scheint, wieder einmal bewahrheitet. Und wer weiß, vielleicht finden wir auch noch heraus, was sich in den grünen Gebilden verbirgt.
Liebe, nicht genannt sein wollende Hinweisgeberin, danke! P. wird sich persönlich erkenntlich zeigen. Die Blume indessen hat sich zu einer Amaryllis gesellt:
Kennen Sie diese Blume? Ich meine nicht das Ornithogalum (links) und nicht den Pistazienzweig (hinten), sondern den dritten Zweig (vorn rechts). Ein Tier ist es nicht und kein Pilz, bleibt: Blume. Sachdienliche Hinweise sind willkommen. Kontaktaufnahme gern über Polianders Nachrichtenfeld beim Literaturport.
Herzlichen Dank und herzliche Grüße P. und Gramann
Kranz oder Krone: seit drei Monaten nichts in dieser Rubrik geschrieben.
Kranz oder Krone: Seit beinahe zwei Jahren halten wir sorgsam Abstand zwischen uns und den anderen. Wir schützen uns, wir schützen sie. Und umgekehrt.
Kranz und Krone: Als es losging, diese Kranz-Krone-Sache, wies eine Frau Poliander zurecht. P. nämlich hatte gesagt, dass wir Menschen in Herden leben. Die Frau sprach: „Ich bin kein Herdenmensch!“
Das Wort Herde enthält von Natur aus keine Bewertung. Viele Tiere leben in Herden. Herde ist ein Begriff aus der Zoologie. Er steht für eine Gruppe gleichartiger Tiere, meist Säugetiere und große Vögel, oft sind es Tiere, die sich überwiegend oder ausschließlich von Pflanzen ernähren. Diese Gruppen haben eine soziale Struktur, manche beziehen sich in ihrer sozialen Struktur auf ein Leittier, andere sind eher lose organisiert. Ihre Selbstorganisation in einer sozialen Struktur hilft den Tieren, beispielsweise Huftieren, sich vor Beutegreifern zu schützen. Oder, beispielsweise bei Pinguinen, hilft das Herdenverhalten, bei kalten Witterungsbedingungen die Körperwärme zu bewahren. Und so weiter.
Auch Pflanzen sind gern gesellig.
Menschen?
Wer in einer Großstadt lebt, kann dem Kontakt zu anderen Menschen ganz sicher nicht ausweichen. Wir kommen einander nahe. Wenn es zuviel wird, ziehen wir uns vielleicht zurück, oft fahren wir dafür extra aufs Land oder, wie P. das gern tut, auf eine Insel. Doch schon auf dem Weg zur Insel und dort erst recht und umso mehr, je länger wir bleiben, sind wir aufeinander angewiesen. Wenn wir sagen: Ich brauch mal Abstand, dann weil es eben nicht selbstverständlich ist, dauerhaft auf Abstand zu leben. Abstand kann gut und hilfreich sein. Zugleich kennen, mögen, lieben fast alle von uns Menschen, zu denen sie allenfalls zeitweilig ein wenig Abstand halten möchten. Und dann wieder zurück kommen in die vielleicht kleine, aber so gut wie immer vorhandene Gruppe von Kolleginnen, Freunden, Gleichgesinnten, zurück in den Gesprächszusammenhang, zurück zu den Menschen, mit denen man für ein paar Stunden gemeinsam im Kino sitzt, durch eine Ausstellung geht, durch den Wald läuft, zurück zu den Menschen, die ebenfalls ein Brot kaufen oder einen Kaffee trinken wollen. Zurück zu den Geliebten.
Was ist ein Leben ohne Nähe, ohne Berührung? Reicht es aus, ab und zu einen Baum zu umarmen?
Sie verstehen, was Poliander meint. Oder etwa nicht?
Kranz oder Krone: Kinder waren solidarisch, als es hieß, Oma und Opa würden sterben, wenn sie sich nicht zurückhielten. Und was für eine Last für sie, dass es ihnen so gesagt wurde! Und nun, wie sollen sie jemals wieder normal zur Schule gehen, wie sollen sie herausfinden, wie sie leben wollen, wenn wir Erwachsenen nicht solidarisch sind?
Kranz oder Krone: Poliander liest viel. P. fühlt sich nicht schlecht informiert. Natürlich, ein bisschen Mühe machen darf man sich schon, wenn es um die eigene Haltung geht, die man entwickeln möchte, um die eigene Entscheidung, die man finden muss. Über „die Medien“ zu schimpfen, ohne einen Unterschied zwischen einzelnen Medien auch nur zu erwägen, und dann obskuren Websites zu glauben, das findet P. unredlich. „Die Medien“ gibt es nicht. Jede, auch die beste, auch die schludrigste Website ist ein Medium, genauso wie die Knallblättchen mit Promireport, genauso wie die von gut ausgebildeten Journalistinnen und Journalisten gemachten Zeitungen mit ordentlich recherchiertem Wissenschaftsteil es sind. Lesen Sie den Wissenschaftsteil!
Wer den Begriff Herdenimmunität nicht mag, kann auch Community Immunity sagen.
Fragen Sie Ihre Hausärztin!
Kranz oder Krone: Wir, Poliander und Gramann, sind eine sehr kleine Herde, wir können auch ich sagen. Ich kann lange argumentieren. Vieles, was ich denke, manches, was ich weiß, hat eine andere schon einmal formuliert. Vielleicht kann ich es dann anders, aber nicht unbedingt besser oder kürzer sagen. In diesem Fall – also dem SARS-CoV-2-Virus und der Frage, wie wir uns als Gruppe von Individuen dazu verhalten, – war das Luisa Francia, die mit ihrer Meinung selten hinterm Berg hält. Diesmal finde ich Luisa Francias Meinung überaus lesenswert: www.salamandra.de Es geht um den Tagebucheintrag von heute, 24. November 2021, früh um 6 Uhr und 8 Minuten.*
Kranz oder Krone: Es gibt einen Weg aus der Krise. Viele Menschen sind ihn gegangen oder gehen ihn gerade jetzt.
Vor ein paar Tagen lief P. über einen Strand an der Ostsee. Das Meer war hell, an manchen Stellen glatt wie ein Spiegel, die Wellen platschten leise, winzige Steinchen rollten und raschelten. P. war nicht allein da, sondern gemeinsam mit dem Gefährten in einem Bus gekommen, in dem sie fast die ganze Zeit die einzigen Fahrgäste waren. Viel Landschaft unterwegs. Viele Menschen dann gingen über den Strand, freundlicher Abstand, freundliche Nähe. Hund kam gelaufen, schubste P. sanft gegens Bein, fremder Mensch entschuldigte sich. Es macht nichts aus, sagte P. Alle gingen weiter. Es war in Schleswig-Holstein. Da drüben, das ist schon Mecklenburg, sagte der Gefährte und deutete auf jene verblaute und ein wenig graue Küste. Dort stand ein kleiner Regenbogen, der nach oben in einer Wolke verschwand. Spätnachmittagssonnenwolkenlicht. Kein Foto, nur schauen. Und als wir zurückfuhren, fragte die Busfahrerin: Und, wie war’s?
Wie wollen wir leben? Mit oder ohne Kontakt, mit oder ohne Kultur, mit oder ohne öffentliches Leben? Mit oder ohne Solidarität?
Koordinaten: November 2021 Covid-Zahlen: 5.430.911 bestätigte Fälle (Zahl laut täglichem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 23. November 2021), davon ca. 651.500 aktive Fälle. Genesene: ca. 4.680.000 (vom RKI geschätzter Wert zum gleichen Datum). Einmal geimpft: 58.697.074, zweimal geimpft: 56.570.199, dreimal geimpft: 6.106.025 (alle drei Zahlen laut Lagebericht vom gleichen Datum). Covid-Wissen: Reportage aus der FAZ über eine Nacht auf einer Intensivstation im Darmstädter Krankenhaus, auf der Menschen mit schweren Verläufen behandelt werden: „Auf der Endstation„.
* Einzelne Einträge auf www.salamandra.de, so auch derjenige vom 24. 11. 2021, können leider nicht direkt verlinkt werden. Der tagesaktuelle Eintrag befindet sich stets oben auf der Seite, wird aber nach unten wandern. Das muss die Leserin dann gegebenenfalls auch tun.
Ihr seid, Sie sind herzlich eingeladen zu Lesungen in diesem Herbst, und Poliander freut sich sehr über zahlreiches Erscheinen, aufs Wiederbegegnen und aufs Kennenlernen:
Auch der Sommer verschwand, Als hätt’s ihn nie gegeben. Sonne wärmt noch den Sand. Aber das ist zuwenig. (Arseni Tarkowski)***
Aber es gab ihn doch, diesen Sommer, es gibt ihn noch, wenn auch nicht grad heute. Jedes Jahr gibt es ihn, den Tag, den Augenblick, in dem P. dieses Gedicht in den Ohren klingt. Das ist P.s Sommertag, und P. will auch nie mehr behaupten, keine Lyrikleserin zu sein.
Was in diesem Sommer war: ein paar Augenblicke des Zusammenseins, kein Grund zu elegischer Stimmung. Zum Beispiel mit Freundinnen oder Freunden, zum Beispiel draußen, zum Beispiel drinnen. Im Haus der Statistik zum Beispiel, Sie fahren ein paar Stationen mit der U-Bahn, Alexanderplatz. Normalerweise haben Sie da nicht soviel verloren. Diesmal schon: LOST AND FOUND. Gehen Sie einfach der Ausschilderung nach, Ausgang Karl-Marx-Allee. Das Haus der Statistik finden Sie an der Karl-Marx-Allee 1. Das ist schon ein anderes Berlin, von dem das Haus geblieben ist, aber P. war dort auch früher nicht zu Hause. P. war in einer Mietskaserne zu Hause, damals im anderen Berlin. Karl-Marx-Allee 1, eine entkernte Neubau-Ruine. Aber in Berlin ist bekanntlich noch jeder alte Neubau zu etwas zu gebrauchen. (Gut, fast jeder. Ein paar gab es, die jetzt weg sind, die vermisst P. schon.)
Jetzt ein Projekt, kann man sagen, ein Konzept, eine Pioniernutzung. Neues Wort, Pioniernutzung, aber schön.
Die Redaktion von Prolog – Heft für Text und Zeichnung hat hier einen Raum genutzt, vom 4. bis zum 14. August 2021, zehn Tage im Sommer. P. ging hin. Bilder waren zu sehen, Texte zu hören, Film gab es auch. Ja, Sie haben was verpasst. Vor allem: endlich wieder was mit anderen zu machen und nicht alle vorher schon zu kennen. Das ist es, was dieser Eintrag mit C. zu tun hat: nicht allein bleiben, nicht zu zwein bleiben, etwas zu tun, was seit eineinhalb Jahren die Ausnahme ist, auch wenn’s mal Gewohnheit und die Regel war.
Zehn Tage, und jeden Abend hielten Dorit Trebeljahr und Anton Schwarzbach, die das hier organisiert haben, eine Rede. P. war zweimal dabei, es war herzlich und unkompliziert, und es war möglich. Gute Nachrichten, neue Bilder, erfreuliche Geschichten, die können wir grad alle gebrauchen. Nicht weil der Himmel so blau ist darin, sondern weil neue Geschichten mehr sind als nur sofort, weil sie mit der Lust kommen, noch mehr zu erfahren. Es sollte möglich sein. Und Leute, Mensch: Leute!
Provisorische Räume sind die Übergangswohnungen der Kunst. Und P. findet gern etwas, wovon sie nicht wusste, dass sie es verloren hatte.
Was ich wollte, gelang, Leicht, wie Blätter sich legen Fünfgezackt in die Hand. Aber das ist zuwenig.***
Fast vergessen, wie das ist, an mehr Abenden der Woche unterwegs zu sein als am eignen Schreibtisch. Was ist der Plan? Der Plan für den Ort ist offen. Den persönlichen Plan macht sich jede selbst, C. zum Trotz, und auch wenn manche sagen, mehr als drei Wochen vorausdenken, das ginge gar nicht, nicht mit diesem C., doch, es muss gehn. Denn Pläne kann man ändern.
Gutes, Böses verschwand, Nichts geschah mir vergebens, Alles hat hell gebrannt. Aber das ist zuwenig.***
Eine Zwischenbilanz ist nicht das letzte Wort, das gesprochen wurde. Arseni Tarkowski, für P. ist das ein Sommername, ein Sommergedicht, auch wenn’s nicht so gemeint sein sollte. Wer weiß schon, was Menschen über ihr Geschriebenes meinen? Da kann man viel erzählen und viel beschweigen.
Oder einfach mal zuhören, zusehen, die gefaltete Zeichnungsreihe anschauen, die ungebetenen Briefe lesen, das große Plakat, die Fotos dieser Journalseiten und so weiter, alles ansehen und denken: Wär ich nicht dagegewesen, ich hätt was verpasst. Zuschauen, wie der große grüne Kaktus (bitte schauen Sie oben noch mal – danke!) seine Stacheln verliert, sie abgezupft bekommt, wie er auseinandergebaut wird. Der Kaktus.* Kunst sehen, die noch nicht in der Gemäldegalerie hängt, über die es noch keine offizielle Meinung gibt, über die P. bei sich selbst die erste und bei Zufallsbekanntschaften die zweite Meinung einholt. Ja.
Solche Nachberichte, das macht P. doch sonst nicht, und hier schon zum zweiten Mal? Stimmt. Aber P. hatte was verloren, viel, und das konnte P. selbst auf den schönsten Einzelabstandsspaziergängen nicht finden, und die waren wirklich schön, jeder einzelne in diesem ganzen langen Anderthalbjahr, und P. denkt auch sehr gern und froh an die Mitspaziergängerinnen.
Meditativ und diskursiv, sagt P., ganz schöner Dualismus, wirklich schön. Aber doch nicht, weil ein C. es erzwingt! Und als das Anderthalbjahr rum war, ging P. zu LOST AND FOUND, hörte was zu, sah was an, las was vor, trank was Bier. „Haus der Statistik“, nie gehört vorher und früher immer übersehn. Karl-Marx-Allee, nie so ganz mein Einzugsbereich, sagte P., und P. sagt jetzt: Was für ein freundlicher Ort, was für freundliche Menschen. Halleluja, Kolleg!nnen! Haben Sie was verpasst? Macht nichts, macht was, aber ist kein Grund zu elegischer Stimmung. Lesen Sie doch einfach mal so ein Heft. Die Hefte sind auch wie eine Ausstellung, mit Kunst, die – .
Für jetzt, für gleich können Sie mit P. den Rest von Tarkowskis Gedicht lesen. Und dann lesen Sie es noch einmal extra, lesen Sie es ganz, halblaut oder laut:
Seine schützende Hand Über mich hielt das Leben, Hab das Glück gut gekannt. Aber das ist zuwenig.
Und kein Blatt ist verbrannt, Und kein Ast brach, und Regen Hat der Tag mir gesandt. Aber das ist zuwenig.
Und gehn Sie raus, finden Sie was. Und ach was!, Wetter.
Koordinaten: Dorit Trebeljahr, Anton Schwarzbach. Prolog – Heft für Zeichnung und Text. Berlin, Karl-Marx-Allee. 52° 31′ 22,1“ N, 13° 25′ 5,9“ O Covid-Zahlen: 3.827.051 (Zahl laut täglichem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 17. August 2021). Genesene: ca. 3.684.700 (vom RKI geschätzter Wert zum gleichen Datum). Einmal geimpft: 52.583.655, zweimal geimpft: 47.603.282 (beide Zahlen laut Lagebericht vom gleichen Datum)
Liebe Leserinnen, liebe Leser, Sie sind, Ihr seid herzlich eingeladen zu
LOST and FOUND. Sommerfestival von und mit Prolog – Heft für Zeichnung und Text
Gezeigt und gelesen werden Arbeiten von 65 Künstler*nnen und Autor*nnen der in den Lockdowns erschienenen Prolog-Ausgaben ABSAGE, Struktur(en) Differenz(en), NACHT//SCHATTEN
AUSSTELLUNG 4. bis zum 14. August 2021, täglich von 16 bis 21 oder bis zum Ende der Veranstaltungen
Die Sonne stand im Westen, aber noch nicht tief. Zwischen Strandweg und Meer lagen faustgroße Steine dicht an dicht. Die rollenden Steine setzten sich fort bis ins Meer.
Es roch nach Ostsee, aber nicht so intensiv wie da oben, am Gammendorfer Strand, wo Algen im Wasser trieben und bündelweis im Sand lagen. Da hatte P. auf dem mageren Gras gesessen, etwas ab vom Meer, und mit der Linken im Sand gewühlt. Da, etwas Festes, Geformtes, als P. hinsah, war es ein Hartplastiksoldat. Das sollte hier nicht liegen, wo Kinder es finden konnten. Während der Gefährte aus dem Wasser kam, steckte P. den Soldaten in den Rucksack.
Die Sonne stand im Westen, aber noch nicht tief. P. rutschte mit den Füßen zwischen die rollenden Steine. Es war glatt und kalt, man konnte hier nicht Schrittchen für Schrittchen ins Wasser schleichen, um sich langsam an die Kälte zu gewöhnen. Jede Welle schob die Balance weg, zur Seite, nach hinten, nach vorn. In P.s Kopf war noch St. Petri, die Kirche in Landkirchen auf Fehmarn. Erst war die Kirche gewesen, später der Ort, weswegen er Landkirchen geheißen wurde. Grob hingehauene Kirche, astreine Gotik, aber anders. Breit dahockend. Innen jede Menge Barock, aber oben, in einem der Gewölbe barockfreies Mittelalter. Dort ist mit roter Farbe ein Pelikan gezeichnet. Er reißt sich die Brust auf, das Blut tropft in die Schnäbel der Jungen. Schön spricht der Physiologus vom Pelikan. Nein, Schrift ist da keine, alle kannten die Geschichte. „Was macht der Vogel da?“, fragte ein Kind, „Komm jetzt“, antwortete die Mutter.
Der Gefährte hatte das Auto zwischen Getreidefeldern hindurch gelenkt, schmale Straße, breiter Feldrain, dicht bestanden mit Kornblumen, Mohn, Margariten, Ringelblumen. Wann hatten sie zuletzt solche breiten Feldraine gesehen? Es fiel ihnen ein, in Wachendorf, nahe der Feldkapelle, die Bruder Klaus gewidmet ist. Dort blühte Phacelia. Hier hatte jemand alles ausgesät, was noch viel bunter blühte. Alles, was früher von selbst wuchs. Aber Hauptsache, es war da.
Jetzt stand die Sonne im Westen. P. warf sich ins Wasser. Es war nicht so kalt, es war flach an diesem Juninachmittag, die Luft war nicht so warm, die Sonne schon. Anbaden. Schwimmend sah P. vom Wasser zum Strand, wo der Gefährte auf der Bank saß, Sonne im Gesicht. P. sah zwei Menschen übern Strand streifen, die einen offenen Strandkorb suchen. Bald käme die Nacht. Sonne auf dem nassen Gesicht, schwamm P. vorm Ufer hin und her. Anbaden für 2020, abbaden für 2020, anbaden für 2021. Da schwimmt man, bis die Fingerspitzen runzlig sind.
Die Sonne stand im Westen, noch nicht tief. Als P. aus dem Wasser kam, war wenig Halt unter den Füßen. Rollende Steine unter den Fußsohlen, unter den Knien, unterm Handgelenk. Anbaden. Der Kreis hat sich geschlossen. Zurück am Meer, auch wenn es diesmal nur die Ostsee war, immerhin einer der steinigen Flecken, wo man ohne blaue Flecken nicht davonkommt.
Den Hartplastiksoldaten haben wir später, in der Stadt, entsorgt.
Koordinaten: 54° 29′ N, 11° 7′ O. Wer Fotos sehen will, wende sich bitte an Wikipedia.
Wiedersehen: Menschen, mit denen wir befreundet sind, Menschen, mit denen wir bekannt sind, Menschen, die wir jetzt kennenlernen.
In einem Hinterhof stehen, ungleichmäßiges Pflaster und struppiges Gras unter den Füßen, improvisierte Sitzgelegenheiten, manche setzen sich gleich auf den Boden. Eine freundliche Hand reicht ein Kissen. Manche lehnen an der Wand einer Remise. Nach drinnen gehen, eine Limonade holen, ein paar Bilder ansehen, einen Text lesen. Wieder draußen zwei Menschen einander vorstellen.
Sich etwas, jemandem jemanden vorstellen. Etwas vorstellen. Einen Text. Zum Beispiel.
Sie beginnt, sie hält inne, die Gastgeberin. Sie liest ein Gedicht von Friederike Mayröcker. Friederike Mayröcker starb am letzten Freitag, am 4. Juni 2021. Erinnerungen brechen herein. Le chien c’est moi.* Der Gastgeberin zuhören. Dankbar sein, dass sie, jetzt, hier, an Mayröcker erinnert, dankbar sein, dass alle wissen, wer das war. Vielleicht kennen wir uns nicht, aber wir kennen uns.
Nach einer Weile haben wir den Ort gesehen, uns umgesehen: die alten Schornsteine an der rückseitigen Hausfassade, ein Muster aus Ziegelsteinen. Die Menschen in oft getragenen und oft gewaschenen Kleidern, die schon ganz weich aussehen, die leichten Hosen, die leichten Haare, das bunt bestickte Kleid. Die Remise, die nicht saniert, die Fassade, die nicht renoviert wurde. Wir reden ein bisschen, die anderen reden auch ein bisschen. So viel Gespräch, so viel Unterbrechungen, sind wir noch daran gewöhnt? Wir setzen uns irgendwohin, eine liest, einer, wir anderen hören zu, wir lesen selbst. Ich habe nicht vergessen, wie man ein Mikrofon hält. Ich habe vergessen, wie ich praktischerweise umblättern kann, während ich in einer Hand das Buch, in der anderen das Mikro halte. Ich bin ungeschickt, ich unterbreche, ich entschuldige mich. Ich lese trotzdem. Ich sage danke, als die anderen klatschen. Ich verschlucke das Wort Verhängnis, obwohl es da hingehört, an diesen Ort, an dem ich das Lesen abbreche, in diese Zeile.
Ich fühle mich erschlagen von Worten. Es war keine große Dosis.
Einander wiedersehen, einander wieder sehen. Wir gehen langsam mit unseren von Zeitschriftenexemplaren beschwerten Rucksäcken. Wir reden zum zweiten Mal in weniger als einer Woche mit der guten Freundin. Wie lang haben wir uns nicht gesehen, dann: uns nicht oft gesehen. Da ist ein Lokal, wir setzen uns einfach und bestellen Essen und Getränke. Nach mehr als einem Jahr essen wir von Porzellantellern, obwohl wir jetzt gerade nicht zu Hause sind. Wir legen die Melonenschale, die vom Schnitz übrigblieb, der am Cocktailglas klemmte, auf einen eigens dafür vom Kellner hingestellten kleinen Teller. Auch der Kellner ist glücklich, vielleicht ist er der Chef, wir hören Vergnügen in seiner Stimme. Wir sind da, er ist da, die anderen sind auch da. Würden wir uns beschweren, wenn es jetzt noch länger dauerte mit dem Essen? Überwöge trotzdem die Freude? Wir reden und reden. Die Freude überwiegt. Wir teilen sie.
Die Freude, dass jemand Friederike Mayröcker einen stillen Moment widmete. Dass wir gemeinsam schwiegen. Zuerst hatte ich geschrieben: dass jemand Friederike Mayröckers Tod einen stillen Moment widmete. Aber ist es nicht ihr Leben, dem dieser Moment gewidmet wurde? Ihrem Leben? Ihrer Anwesenheit? Ihrer Arbeit? Ihrer Lebensarbeit, Schreibarbeit. Ihrem Aufenthalt auf Erden. Ich suche nach Worten. Ich ringe. Könnten wir sagen, wir haben uns das gewünscht? Diesen Augenblick, um an Friederike Mayröcker zu denken. Wir können es einfach auch nicht besser sagen als die FAZ. Mayröckers Verse wohnen uns schon im Blut. Wir sehen einander an und bewundern unsere Erinnerung, jede für sich. Sie ist nicht fort.
Dankbarkeit für unsanierte Hinterhöfe.
Koordinaten: Weißensee. Covid-Zahlen: 3.700.367 (Zahl laut täglichem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts vom 06. Juni 2021). Genesene: ca. 3.538.000 (vom RKI geschätzter Wert zum gleichen Datum). Einmal geimpft: 36.999.375, zweimal geimpft: 17.240.975 (beide Zahlen laut dem Lagebericht vom 5. Juni 2021, RKI-Website zuletzt abgerufen: 6. Juni 2021). * Text zu einer Zeichnung Friederike Mayröckers.