Die Stadt, in der ich wohne, wurde groß durch die Menschen, die kamen, um hier zu arbeiten. Sie stellten Textilien her, bauten Lokomotiven, Maschinen, elektrische Konsumgüter, arbeiteten in der chemischen Industrie und produzierten Arzneimittel. Fremdsprachige Namen tauchten so tief ein in die Sprache der Stadt, dass die Chodowiecki-Straße im hiesigen Idiom bis heute „Schodowicki-Straße“ gesprochen wird.
In der Stadt, in der ich wohne, arbeiteten und arbeiten bedeutende Wissenschaftler:innen. Stets denke ich dabei zuerst an die Begründer des Fachs, das ich studierte, die Brüder Grimm. Sie gehörten zu den Göttinger Sieben, die gegen die Absetzung der relativ freiheitlichen Verfassung im Land Hannover protestierten und deshalb 1837 aus ihren Professuren entlassen wurden. Jakob Grimm wurde sogar des Landes verwiesen. Sie waren nicht „von hier“. Aber hier arbeiteten die Brüder an einem Werk, das heute eines meiner liebsten Arbeitsmittel ist, dem Wörterbuch.
Als ich in den Westen der Stadt kam, wohnte ich an einer Straße, in der man alle Verkehrsmittel sehen, hören und fühlen konnte, die es hier überhaupt gibt. Zu jeder Tageszeit fuhren Busse an und ab, auf dem Kanal zogen Binnenschiffe mit ihrer Fracht vorbei, nachts erschütterten Güterzüge die Mauern des Hauses, und über dem Haus flogen erstaunlich tief die Flugzeuge zu einem (inzwischen stillgelegten) Flughafen. Das Stadtbild trage ich auch in meiner Lunge: Die Abgase unzähliger privater PKWs und anderer Motorfahrzeuge und der Abrieb ihrer Räder, ein feiner, toxischer Staub, hinterlassen dort Spuren.
Und doch liebe ich das Bild dieser Stadt, das auch und vor allem ein Hörbild ist: Denn neben dem nimmermüden Rauschen des Verkehrs und dem Tatü-Tata der Rettungswagen und dem Brummen von Baumaschinen enthält es auch Amselgesang, das Krächzen des Eichelhähers, den nächtlichen Schrei der Füchsin und den heiseren Ruf der Bussarde. Schritte und Gespräche in der Nachbarwohnung bedeuten: Ich bin nicht allein. Und wann immer ich die Augen schließe und die Ohren öffne in einer der Bahnen, die ich fast täglich benutze, höre ich eine oder mehrere der vielen Sprachen, die in meiner Stadt gesprochen werden. Ich lausche fasziniert. Manche erkenne ich, in wenigen könnte ich antworten.
Ich glaube gern, dass das unruhig bewegte, lebendige, stets etwas zu laute, oft viel zu schmutzige Bild meiner Stadt Menschen Angst machen kann, die vom Lande kommen, vom Sauer-Lande zum Beispiel. Auch ich kam vom Dorf. Doch während es dort schon einsam machte, wenn man statt des Dialekts nur hochdeutsch sprach, macht der Schatz an Wissen und Ausdruck in den vielen Sprachen meiner Stadt mich froh. Noch immer und immer wieder kann ich eine davon lernen oder mich darin verbessern. Das mag ich an der Stadt.
Durch das Bild der Stadt, in der ich wohne, gehen auch Menschen, die kein Obdach haben. Sie bieten oft eine Zeitung an oder bitten um Geld. Das Bild unserer Stadt wird nicht durch ihre Person und ihre Anwesenheit getrübt, sondern dadurch, dass es für sie sehr schwer ist, Hilfe und Ausweg zu finden, auch wenn sie das versuchen. Denn vielen Politiker:innen ist ihre Existenz nichts als lästig. Die herrschende Politik des Sparens macht Wohnungslosen das Leben nicht eben leichter. Wohnen, eines der elementarsten Bedürfnisse des Menschen, ist in unserer Stadt ein knappes Gut und teuer.
In der Stadt leben viele Menschen, die gut arbeiten können, die gern arbeiten wollen und über in unserer Gesellschaft gesuchte Qualifikationen verfügen. Und doch dauert es oft viele Monate, wenn nicht Jahre, ehe ihre Qualifikation anerkannt wird. Das weiß ich auch direkt, nahe, von Freund:nnen, die erst ihrer Qualifikation entsprechend arbeiten durften, als ein Politiker sich persönlich für sie einsetzte. Und doch würden sie selbst niemals auf die Idee kommen, einen hilfesuchenden Menschen unnötig warten zu lassen. Das Helfen ist ihr Beruf.
Meine Stadt ist eine ewige Baustelle. Das hat etwas Symbolisches: immer im Umbruch. Doch es bremst das Leben in der Stadt auch. Denn das sinnreich angelegte System der öffentlichen Verkehrsmittel, eines der besten im Lande, funktioniert nicht richtig, wenn kaputte Wege, Straßen, Brücken, Schienen nie zügig repariert werden, wenn jede für, sagen wir, drei Monate geplante Baustelle auch nach sechs Monaten kein Ende nimmt. Aber selbst das hat etwas Gutes: Wenn die Bauarbeiten ruhen – sie ruhen oft! – sind auch die gesperrten Straßen himmlisch ruhig, so ohne Parksuchverkehr.
Die Stadt, in der ich wohne, wird im Land oft als ein faules, geldverschlingendes Monster beschimpft, ihre Bewohner:innen als anspruchsvoll und politisch überkorrekt. Dabei ist die Stadt mit all ihren Bewohnerinnen und Bewohnern ausweislich des hier erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukts die größte städtische Ökonomie im gesamten deutschsprachigen Raum, die zweitgrößte in der EU. Die wunderbaren kulturellen Institutionen unserer Stadt, die herrliche Philharmonie, die Theater, die großartigen und informativen Museen sind nicht nur Orte der Bildung und der Entspannung für uns, die Bewohner:innen, sondern sie ziehen auch so viele Menschen aus anderen Orten an. So ist der Tourismus zu einem der bedeutendsten Wirtschaftszweige unserer Stadt geworden.
Das Bild der Stadt, in der ich lebe, ist nicht nur bunt, sondern gerade in diesem Moment auch golden, denn es ist eine Stadt der Linden. Mit irgend etwas werfen die Linden in jeder Jahreszeit, mit ihren Früchten, ihren Blüten, ihren Pollen und den Ausscheidungen der sie besiedelnden Blattläuse, zuletzt im Herbst mit Blättern, nachdem sie im Sommer den Bienen die Basis für den feinen Stadthonig gaben. Die Linden sind ein gutes Bild für unsere Stadt. Sie mögen mit all dem, was sie auf die Straße werfen und was sich mit Schmutz, Regenwasser, manchmal auch Eis bisweilen zu einem rutschigen Gemisch verbindet, auch mal lästig sein. Aber sie geben uns Schatten, Freude durch Grün und Gold ihrer Blätter, sie sind Wohnung und Nahrungsquelle vieler Tiere. Ohne Bäume kann es keine Schwammstadt geben, die wir so dringend brauchen. Ich will nicht ohne die Linden leben.
Das Bild der Stadt, in der ich lebe, ist voller Widersprüche. Wir sind bald vier Millionen, wir meckern immer. Und doch lieben wir unsere Stadt, viele von uns lieben sie weit mehr, als wir das Dorf, aus dem wir gekommen sind, je liebten. Und wenn mich wer fragt, was aus der Stadt verbannt werden muss, damit sie schöner, sauberer und gesünder wird: Abgase und Feinstaub, davon hätte ich gern etwas weniger, sogar sehr gern sehr viel weniger. Menschen aber sollen bleiben und miteinander lernen, wie die Stadt, in der wir leben, bewohnbar und liebenswert bleiben und es immer neu werden kann.
Koordinaten: 52° 31′ N, 13° 24′ O