Polianders Zeitreisen

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Die Männinnen

16.03.2025 · poliander

Wir sehen es von oben, das Pferd, das durch den Schnee geht. Schritt für Schritt setzt es die Hufe, so entsteht eine enge Spur. Es ist kalt, es ist einsam. Das Pferd geht, begleitet von seinem Schatten, auf seinem eignen, schmalen Weg.

Das Schneeland in den Bergen ist Albanien, nördlicher Teil.

Erst sehen wir das Pferd, später die Menschen. Sie arbeiten ihr ganzes Leben lang sehr schwer. Auch die zarte Greisin, deren Körper so zerbrechlich wirkt mit überaus schmalen Armen, ausgezehrten Wangen, hat ihr Leben lang schwer gearbeitet. Mit elf Jahren sei sie verantwortlich gewesen, für die ganze Familie, und alle hätten die Hand ausgestreckt, damit sie ihnen Essen gebe.

Wann, fragt die Stimme der Filmemacherin, hat sie oder hat wer entschieden, dass sie ihr Leben als Mann leben würde? Als sie ein junges Mädchen war?
Nein: Entschieden war es am Tag der Geburt.
Der Vater habe mit dem Gewehr in die Luft geschossen, einmal. So wussten alle in der Nachbarschaft: Hier wurde ein Sohn geboren. Drei Schüsse bedeuten eine Eheschließung, ein Schuss bedeutet die Geburt eines Sohns.
Nur ein Sohn zählte. Ein Vater, wenn nicht der: ein Bruder, wenn nicht der: ein Sohn war das Familienoberhaupt. Denn ein Mädchen, eine Frau konnte niemals Familienoberhaupt sein, Erbe, Ernährer der Familie. Das ist das Herrschaftsprinzip des Patriarchats.

wo/men: Marta und Sandra. Bild: © Filmkantine. Alfred Nrecaj

Der Film wo/men von Kristine Nrecaj und Birthe Templin erzählt von Frauen, die ihr Leben lang als Mann leben, in Albanien. Man nennt sie Burrneshë oder, wenn der bestimmte Artikel gemeint ist, Burrnesha. Burr bedeutet: Mann, neshë (-a) bedeutet: die feminine Endung eines Wortes.

Die sechs im Film wo/men porträtierten Burrneshas haben zu unterschiedlichen Zeiten ihres Lebens begonnen, als Mann zu leben. Das ist eine soziale Rolle, sie basiert auf dem traditionellen Gewohnheitsrecht in einer, der nördlichen, gebirgigen Region des Landes. (Wie oft in manchen Orten Albaniens heute noch Mädchen oder Frauen zu Burrneshas werden, bleibt im Film offen, selten, scheint durch. Doch nicht alle Menschen, die zu Wort kommen, sind alt.)

Die Vornamen der Porträtierten sind: Marta, Sanie, Bedrie, Diana, Valerjana, Gjystina. Für einige von ihnen war es ein von Kindesbeinen an vorgezeichneter Weg, erzwungen durch familiäre Umstände – ein Mann musste im Haus sein. Andere sprechen davon, sich selbst so entschieden zu haben, dass sie als Kinder gern mit den Jungen Fußball spielten und dann „einfach“ als Junge, junger Mann weiterlebten, da habe die Mutter auch nichts machen können. Es bedeute, unabhängig zu sein, von Männern akzeptiert, Zeit auch mit Männern verbringen zu können. Man sieht sie mit Männern zusammen arbeiten, Säcke schleppen, trinken, rauchen, Männergespräche führen, beim Anmessen eines Anzugs, beim Friseur: Einen Männerschnitt bitte!

Denn eine Frau sei niemals frei, eine Frau bleibe immer im Haus, nicht einmal Wasser könne sie holen.

Jede der Burrneshas, deren Alltag der Film wo/men begleitet, hat ihre eigene Geschichte. Auch sie, wie uns alle, kann man nicht in Schubladen stecken, und ihre sehr persönlichen Geschichten eignen sich nicht als Projektionsfläche westlicher Vorstellungen von einer freien Wahl des Geschlechts, in dem ein Mensch die eigene Lebenszeit verbringen möchte.
Sie versuchen, wie wir alle (hoffentlich wie wir alle), einen eigenen Weg zu gehen, mehrere sagen es auch. Eine sagt nichts. Sie erzählen nicht, um die Erwartungen des Publikums zu erfüllen: Vorreiter:innen der Queerness sind sie nicht, ihre Entscheidung ist erkennbar nicht durch sexuelle Orientierung motiviert. Im Gegenteil: Eine Burrnesha zu sein, bedeutet traditionell, alles für die Familie zu tun, die Familie zu versorgen, selbst aber ohne Partner:in zu leben und niemals Kinder zu bekommen.

Ob sie ein Mann sei oder eine Frau, darüber rede sie nicht mit den Leuten, sagt eine. Man möge sie anschauen, das genügt.

So individuell die Lebensgeschichten der sechs Burrneshas sind: Die Gründe, warum sie so leben, wie sie es tun, sind sozialer und ökonomischer Natur.

Oh ja, manche erzählen, dass sie bereits als Kinder oder Jugendliche Beschützer von Mädchen waren. Mädchen gingen in der Mitte, die beiden befreundeten jungen Burrneshas hielten sich rechts und links von ihnen.
Bedrie, die einen kleinen Bus fährt, der das Zentrum ihres Lebens, ihrer Arbeit und ihrer Unabhängigkeit ist, zeigt, wie sie die Fahrgäste platziert: Männer und Frauen in den Reihen getrennt. In meinem Bus gibt es keine Belästigung von Frauen! Und sie lässt durchblicken, dass sie eine Frau, die sie fährt, notfalls mit der Waffe beschützen würde.
Eine, augenscheinlich die jüngste, sagt, es sei einfach viel besser, als Mann zu leben und unabhängig zu sein. Liebe aber sei sinnlos. Da meint sie die Liebe zu einem Mann. Sie lebt allein.
Eine andere nennt den Preis: Ja, mit Kindern, das wäre ein anderes Leben.

Soziale und ökonomische Gründe, oh ja, was sonst! Denn das Patriarchat bittet uns nicht.

Dieser Film, in dem sechs Menschen von sich erzählen, in dem sechs Menschen zu sehen sind, deren Körper und Bewegungsmuster zeigen, dass ihr Leben nicht leicht ist, überhaupt nicht leicht, ist sehr schön. Es ist ein Film über schwer arbeitende Menschen und ein Film über eine äußerst patriarchalische Gesellschaft, die diese Besonderheit hervorbrachte, weil eine Frau in ihr keinen Wert hat als den, einen Sohn zu gebären.

Einmal höre ich eine jüngere Stimme sprechen. Sie sagt: Dieser Mensch hier sei für sie immer ihre Hala (Tante) gewesen. Sie habe die Arbeit eines Mannes getan und das Lebens eines Mannes gelebt, aber, sagt die Stimme: mit der Wärme einer Frau. Und ich sehe eine Greisin mit sehr kurz geschnittenen Haaren, mit einem kleinen Mädchen, das ihre Enkelin sein könnte, ihre Urenkelin vielleicht. Sie sitzen am Strand, vertraut, nahe. Und neben dem, was ist, sehe ich auch, was sein kann, wenn Geschlecht nicht entscheidend ist für einen eigenen Weg: warme Zuneigung, Vertrauen und Nähe ohne Hintersinn.

Dann, noch einmal, sehe ich das Pferd. Einsam tritt es seinen Weg.

***

Koordinaten: House with a Voice (englischsprachige Website des Films wo/men). wo/men (auf der Website der Berliner Produktionsfirma Filmkantine). Kristine Nrecaj und Birthe Templin.

Persönliche Anmerkung: Vielleicht haben Sie schon einmal von Burrneshas gehört oder einen Bericht über sie oder über „geschworene Jungfrauen“ gelesen, gesehen. Wir empfehlen Ihnen den Film auch dann und wärmstens, denn er handelt nicht von einem „Phänomen“, sondern von Menschen, die etwas erzählen, das wir, aller Wahrscheinlichkeit nach, auf diese Art noch nicht erzählt bekommen haben.
P. und Gramann

Augenweide
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